Tatjana ist das Schlimmste passiert, was einer Mutter passieren kann: Sie hat zwei ihrer Kinder verloren. Wie sie trotzdem glücklich wurde, teilt sie seither mit ihren Followern auf ihrem gleichnamigen Insta-Account – und als Trauerrednerin und -Begleiterin mit den Menschen, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Für uns hat sie ihre herzzereißende Geschichte aufgeschrieben, die trotz allem Mut macht. Ja, es geht um Tod, um Trauer. Aber eben auch um Dankbarkeit, Hoffnung, grenzenlose Liebe und was aus all dem wachsen kann…

„Glück, was ist das schon?! Glück, so was gibt es doch nicht, oder? Das Schicksal ist nämlich ein mieses A***!“ Dieser Gedanke schießt mir durch den Kopf, als ich die Urne meiner kleinen Tochter zusammen mit meinem Mann und unserem Sohn in das Grab absenke. Das Loslassen der orangenen Bänder, die an der Urne befestigt sind, tut weh. So sehr weh. Das allerletzte Irdische, das wir von ihr in den Händen halten, lassen wir für immer los. Geben unsere Tochter der Erde zurück.

Wir wollten doch einfach nur glücklich sein!

Hatten keine großen Anforderungen an das Leben. Schon beim Traugespräch mit unserem Pfarrer sagten wir, dass wir nur ein stinknormales 0815-Leben wollten. Mit eigenen Häuschen auf dem Land, zwei gesunden Kindern, einem Wohnwagen. Das Häuschen war gebaut, der Erstgeborene  zweieinhalb Jahre alt. Perfektes Timing für das zweite Wunschkind. Ich hatte mich gerade als Hochzeitsplanerin selbstständig gemacht  und wurde sofort mit Kind Nummer zwei schwanger. Ein Mädchen, perfekt. Das Pärchen, von dem ich immer geträumt hatte.

Die Schwangerschaft verlief wunderbar. Bis zur Routineuntersuchung beim Frauenarzt in der 29. Schwangerschaftswoche. Zweites großes Organscreening. Die Ärztin schallte und schallte. Ungewöhnlich lange. Sie maß nochmal und noch einmal. Und dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, sagte sie: „Also, sie ist mir jetzt doch ein bisschen zu klein. Sie ist 3 Wochen hinterher. Die Versorgung sieht aber gut aus. Ich schicke Sie mal zum Feindiagnostiker. Ich brauche eine zweite Meinung.“

Wenige Tage später schallte der Feindiagnostiker.

Er schallte und schallte. Ungewöhnlich lange. Er maß nochmal und noch einmal. Ich wurde immer nervöser. Mein Bauch schmerzte vom Rumgedrücke des Schallkopfs, das Baby tobte. Und dann sagte er: „Die Oberarme sind ein Drittel zu kurz. Normalerweise sind es die Oberschenkelknochen, die auffällig sind, das würde auf einen Kleinwuchs hinweisen. Aber dass die Oberarmknochen so kurz sind, ist ungewöhnlich, das habe ich auch noch nie gesehen. Es deutet auf jeden Fall auf einen Kleinwuchs hin, da sie auch generell sehr klein ist. Stellen Sie sich auf mehr ein, ein Kleinwuchs kommt selten allein. Alles andere wird man dann am Kind sehen, wenn es da ist.“

Unsere Leonie wird am 19. Dezember 2019 in der 37. Schwangerschaftswoche geboren.

Weil das Krankenhaus mit Kinderklinik uns mit Wehen abgewiesen hat, fahren wir ins nächstgelegene, ohne Kinderklinik. Nach der Geburt muss Leonie direkt verlegt werden, ihre Sättigung ist schlecht und ihr geht es offensichtlich nicht gut. „Die Oberarme sind tatsächlich arg kurz“, denke ich mir noch im Kreissaal.

Was danach folgt, ist eine Odyssee aus Untersuchungen, Machtlosigkeit und Angst. Wochenlang sind wir mit Leonie auf der Neonatologie. Immer wieder fallen Sätze, die uns absolut hilflos, ängstlich und verzweifelt machen. Wir sind ohnmächtig und völlig ausgeliefert. Je mehr die Ärzte untersuchen, desto schlimmer wird es. Wir haben noch die Hoffnung, dass wir sie einfach „nur“ krank mit nach Hause nehmen können. Stellen uns auf ein behindertes Kind ein und überlegen, wie das Leben mit ihr wohl aussehen würde. Aber irgendwann sagt der Oberarzt den Satz, der alles verändert:

“60 Prozent dieser Babys überleben das erste Lebensjahr nicht.“

„Wie, sie überleben nicht, das kann doch nicht sein! Gibt es denn keine Heilungsmethoden? Kann man nicht irgendwelche Therapien machen? Vielleicht gibt es ja in den USA einen Spezialisten, der etwas für sie tun kann?“ entgegne ich. Ich weiß in diesem Moment überhaupt nicht, wie mir geschieht. Bin wie im Tunnel. Und so ganz habe ich noch nicht begriffen, was der Arzt mir da sagt.

„Diese Krankheit ist nicht heilbar, Frau Megerle. Sie ist stark lebensverkürzend. Ihre Tochter wird noch als Kleinkind sterben. Wir können nur die Symptome behandeln und es ihr so angenehm wie möglich machen“, antwortet der Arzt mit ruhiger Stimme. Mir wird kurz schwarz vor Augen, und ich muss mich aufs Elternbett setzen.

Einfach so und ohne Vorwarnung bricht unsere Welt in Millionen Einzelteile auseinander.

Mit dem Tod hatte ich mich noch nie auseinandergesetzt. Wir haben gesunde Großeltern, niemand, der eine Behinderung hat. Noch nie mussten wir uns mit solch schweren Themen befassen. Ein Kind stirbt doch nicht einfach! Wie kann sie so schwer krank sein? Warum um Himmelswillen trifft es uns? Fragen über Fragen. Die Diagnose reißt uns den Boden unter den Füßen weg. Aber wir haben keine Zeit zum Verarbeiten. Denn alles passiert so schnell, wir müssen für unsere Tochter Entscheidungen treffen, die kein Elternteil treffen möchte.

Wir trauern um ein Leben, dass wir niemals haben werden und müssen gleichzeitig funktionieren.

Wie im Nebel passiert das alles. Wir sind gefangen in dieser Blase, in dieser anderen Welt. Leonie ist körperlich und geistig mehrfach schwerstbehindert und doch so ein unendlich süßes Mädchen. In den wenige guten Momenten am Tag, die sie in ihrem viel zu kurzen Leben hat, lächelt sie auch mal und liebt es, wenn ihr großer Bruder da ist.

Schnell verschlechtert sich ihr Zustand. Es folgen Monate mit viele Klinikaufenthalten, Kinderpflegedienst zu Hause, einer Pandemie, die uns noch weiter isoliert. Es ist eine kaum aushaltbare Ohnmacht, seinem Kind beim Sterben zusehen zu müssen. Leonie kämpft wie eine Löwin. Sie kämpft sich aus so vielen Situationen heraus, in denen wir sie schon aufgegeben hatten. Wir begleiten unser Mädchen 17 Monate auf einem sehr schweren, instensivmedizinischen und palliativen Weg.

Am 31.Juli 2021 stirbt Leonie – und mich trifft das erste Mal mit voller Wucht der Trauer-Tsunami.

Ich muss fast zwei Jahre in einem Paralleluniversum verarbeiten, und dann ist da plötzlich diese große Leere. Mein Mädchen ist tot und ich weiß nicht, wohin mit mir. „Jetzt hast du wenigstens wieder Zeit für dich und deinen Sohn“, sagen viele. Sie meinen es gut, ich weiß. Sie wissen es nicht besser. Aber wer will denn bitte hören, dass es jetzt leichter wird, wo die Belastung meines schwer kranken Kindes weg ist? Wie kann man einer Mutter sagen, dass es besser für alle ist, dass ihr Kind tot ist?! Ich verstehe die Welt nicht mehr und die Welt mich scheinbar auch nicht…

Trauer ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema.

Tote Kinder sind ein „Tabu im Tabu“. Als verwaiste Mama bin ich ein Trigger für alle anderen Mütter. Nicht mal ansatzweise mag man sich vorstellen, was wir durchgemacht haben und immer noch durchmachen. Es ist nicht auszuhalten. Uns ist das Schlimmste passiert, was Eltern passieren kann. Ich werde entweder mit Samthandschuhen angepackt oder bin gar nicht erst dabei. Man weiß einfach nicht, wie man mit mir umgehen soll.

Also fange ich an zu schreiben, weil mir keiner zuhören kann. Das Papier ist geduldig. Es verurteilt mich nicht. Ich suche nach anderen Betroffenen und Gleichgesinnten – und entdecke eine neue Welt, von der ich nicht wusste, dass es sie gibt. Es gibt so viele von uns verwaisten Eltern! Was uns eint, ist das Unverständnis der Außenwelt. Wir sind die Exoten der Elternschaft und in einem Club gefangen, in dem keiner sein möchte. Und alles, was wir wollen, ist, dass unsere Kinder nicht vergessen werden! Ich möchte über mein Mädchen sprechen dürfen, ohne dass alle drum rum bei ihrem Namen zusammenzucken. Ich möchte auch wie alle anderen Mamas von ihr erzählen dürfen, ohne dass alle anderen drumherum Tränen in den Augen haben.

Ich merke damals schnell, dass ich mir selbst helfen muss, denn wirkliche Hilfe gibt es nicht für „so jemanden wie mich“.

Kaum jemand ist da, der es aushält, es mit mir auszuhalten. Als ich nicht mehr weiterweiß, melde ich mich selbst und meinen Sohn zu einem Fernlehrgang zur Trauerbegleitung an. Tauche immer tiefer ab in die Welt der verwaisten Eltern, lese, informiere mich, recherchiere, bilde mich fort.

„Wie kann ich das Leben, für das Leonie so sehr gekämpft hat, nun verfluchen? Mir wird ein Geschenk zuteil, welches ihr verwehrt geblieben ist. Ich habe keine Lust, mich schlecht zu fühlen. Ich möchte wissen, wie das mit der Trauer funktioniert. Ich möchte, dass wir trotz allem wieder glücklich sind. Und ich möchte nicht, dass Leonie vergessen wird.“ Diese Gedanken sind damals mein Antrieb. Und durch mein Schreiben finde ich zum Freien Reden.

Elf Monate nach Leonies Tod bin ich das erste Mal  Trauerrednerin – auf einer Beerdigung für ein Sternenkind.

Gestorben in der 32. Schwangerschaftswoche. „Löwenjunge“ nannten seine Eltern ihn immer. Wie unser Löwenmädchen. Und mir wird klar, dass diese Aufgabe direkt von meinem Mädchen kommt. Ich mache mehrere Ausbildungen als Rednerin, gehe auf Fortbildungen und bin bei Podiumsdiskussionen über das Thema „Kindersterben“ dabei. Mit jeder Rede, die ich halte, merkte ich, wie unglaublich wertvoll und mächtig Worte beim Abschied sind. Und wie unglaublich hilfreich sie für die Angehörigen sein können, wenn man die richtigen findet.

Leonie hat mir diese Aufgabe mitgebracht, warum auch immer es so sein musste. Lieber hätte ich sie hier. Aber so helfe ich nun all den Eltern, die wie wir Ihr Kind viel zu früh gehen lassen mussten. Ich sitze mit ihnen im Epizentrum des Schmerzes und halte die Trauer, die Verzweiflung, die Wut  mit aus. Das, was die meisten Außenstehenden nicht schaffen. Wie können sie denn auch, wir haben es in unserer Gesellschaft niemals gelernt, mit diesem Schmerz umzugehen. Daher sehe ich mich auch als Trauerbotschafterin. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, dass Trauer raus aus der Tabuschublade kommt. Denn wir alle werden früher oder später in unserem Leben auf irgendeine Weise mit dem Tod konfrontiert werden. Wenn etwas im Leben sicher ist, dann das!

Wenn ein Kind stirbt, dann stirbt für die meisten der Kinderwunsch aber nicht mit.

Im Gegenteil: Oft wird er nur noch lauter. So auch bei uns. Etwas mehr als ein Jahr nach Leonies Tod nahmen wir allen Mut zusammen und versuchten es nochmal. Ich wurde wieder schwanger. Voller Hoffnung und Zuversicht verbrachten wir Schwangerschaftswoche um Schwangerschaftswoche. „Sowas passiert doch niemandem zweimal im Leben.“ Dachten wir. Aber das Schicksal ist ein mieses Biest.

Wieder ein Mädchen, wieder das gleiche Monster von Krankheit. In der 16. Schwangerschaftswoche mussten wir auch unser drittes Kind gehen lassen. Das Loch, in das ich danach fiel war tief. Sehr tief. Und dunkel.

Wenn ein Kind stirb, stirbt so viel von einem selbst mit.

Das gesamte Weltbild ändert sich und man selbst passt in das Weltbild der anderen nicht mehr rein. Ein Kind zu verlieren, das ist schon zu viel. Aber gleich zwei Kinder in eineinhalb Jahren zu verabschieden, das hält keiner aus.

Mit kleinen Schritten haben wir wieder versucht, uns der Welt zu nähern. „Mein erstes Kind kann für all das nichts, er hat ein normales Leben verdient.“ Die Aufgabe, die Leonie mir hinterlassen hat, will ich vor allem für meinen Sohn meistern

In so vielen Dingen sind wir ängstlicher geworden. Und in anderen viel gelassener. Wir haben das Schlimmste überstanden, was Eltern passieren kann, gleich zweimal. Dadurch haben wir gemerkt, dass man nicht viel im Leben braucht, um glücklich zu sein. Viel zu oft rennen wir Dingen hinterher, die so belanglos sind. Das, was wirklich wichtig ist, sind doch die Menschen, mit denen wir unsere Zeit verbringen.

Unser neues glücklich ist ein anderes als noch vor fünf Jahren.

Wir versuchen jeden Tag unsere eigenen, alltäglichen Glücksmomente zu sammeln. Viele kleine und großes Geschenke. Ich lerne immer mehr zu akzeptieren, dass das Leben auch alltäglich schlechte Tage haben darf. Ich versuche nicht mehr, die Traurigkeit wegzudrücken, sondern lasse die Tränen fließen, weil ich weiß, dass am nächsten Tag wieder kleine Glücksmomente kommen werden. Oder vielleicht auch erst am übernächsten. Aber sie kommen.

Leonies und Merles Tod werde ich nie akzeptieren. Es ist einfach sinnlos, dass sie sterben mussten. Daher gehe ich jeden Tag aufs Neue los, in ihrem Namen, denn ihr Sterben hat nur dann so etwas wie Sinn, wenn ich anderen dadurch helfen kann. Ich versuche meinen Schmerz in in etwas Positives zu transformieren.

Trauer geht niemals weg. Hört niemals ganz auf.

Man kann sie nicht heilen oder therapieren. Aber man kann lernen, sie in das neue Leben zu integrieren. Denn solange wir trauern, lieben wir. Und solange wir lieben, trauern wir. Und ich werde mein starkes Löwenmädchen und mein kleines Merle-Koalabärle für immer lieben!

Die Trauer ist zu meiner Freundin geworden. Aber auch ich habe nicht jeden Tag Lust, mich mit ihr zu treffen. Manchmal darf sie auch einfach mal wegbleiben. Denn wir versuchen dieses kostbare Leben, das unseren Mädchen verwehrt geblieben ist, bestmöglich zu genießen.

Jetzt wächst wieder ein neues Leben in mir heran.

Denn unsere beiden Schutzengel schickten uns einen Regenbogen. An Weihnachten 2023 schlich es sich ein. Und nun sitze ich hier, mit unserem Regenbogenbaby im Bauch, das kerngesund ist, und schreibe diese Zeilen. Die Hälfte der Schwangerschaft ist schon vorbei und wir können unser Glück kaum fassen.

Langsam kommt auch die Freude immer mehr durch, denn natürlich ist diese Folgeschwangerschaft nach zwei Verlusten mit vielen Sorgen und Ängste verbunden. Aber das Baby in meinem Bauch gibt sich alle Mühe, um mir jeden Tag zu zeigen, dass es ihm gut geht. Alles wird gut. Anders gut, aber gut. Jeden Tag aufs Neue sammeln wir also unsere kleinen, alltäglichen Glücksmomente und wollen einfach nur glücklich sein. Trotz oder gerade wegen dieser beiden Verluste!

Alles Liebe,

 

Tatjana