Ich bin nicht immer ängstlich. Ich hab zum Beispiel sehr viel Mut bewiesen, mein Leben immer nochmal umzukrempeln, eingefahrene Karrieren zu kippen und leere Seiten und Leinwände zu füllen. Ich mache mich beinahe täglich gedankennackig im Internet. In vielen anderen Dingen aber bin ich ein richtiger Schisser…

Ich hab Angst vor Wasser, Höhe, Schnelligkeit. Vorm Tauchen, Klettern, Autofahren. Ich hab Angst vor Telefonaten, vorm Fliegen und Fahrradfahren, teilweise sogar vor Smalltalk. Meine Freundinnen haben früher den Autopiloten gemacht, wenn ich herzklopfig (und unsicher!) auf dem Beschleunigungsstreifen unwillig Gas gegeben habe. Spüre jetzt schon wieder Angstschweiß.

Ach so, ich hab auch noch Angst vor Bällen.

Vielleicht ist meine Angst angeboren. Wahrscheinlicher aber ist, dass meine Eltern sie mir – ohne oder in bester Absicht – anerzogen haben. Dafür sprechen auf jeden Fall viele Studien. Die Ergebnisse klingen beängstigend: “Wenn ein Kind von klein auf lernt, dass überall Gefahren lauern, nimmt es die Welt in erster Linie als Bedrohung wahr und nicht mehr als spannenden Erfahrungsraum“, sagt Annette Cina, Leiterin des Zentrums für Psychotherapie der Universität Freiburg in einem Artikel in der „universitas“, dem Wissenschaftsmagazin der Universität Freiburg.

Meine Eltern sind beide ängstlich. Ob ich mich deswegen früher wenig ausgetobt habe, oder weil ich einfach von mir aus lieber in Ruhe malen wollte, weiß ich nicht. Sie hatten auf jeden Fall so viel Angst um mich, zum Beispiel, dass ich Rad fahre, dass ich es erst als Teenie richtig gelernt habe. Mit Freundinnen, betrunken nach Dorfparties. Ich bin sicher, dass sie sich das so nicht gewünscht haben.

„Typische Beispiele für anerzogene Ängste bei Kindern sind Phobien vor Tieren, Dunkelheit und lauten Geräuschen», erklärt Annette Cina.

Besonders einschränkend seien allerdings soziale Ängste: Betroffene hätten eine anhaltende und unangemessen starke Angst davor, in Kontakt mit anderen Menschen treten zu müssen, im Mittelpunkt zu stehen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie fürchten, sich zu blamieren oder abgelehnt zu werden. Auch diese Angst kann sich auf Kinder übertragen.

Eine sozial ängstliche Mutter oder ein sozial ängstlicher Vater meide nämlich in der Regel Situationen, in denen er oder sie sich exponieren muss. «Die Kinder haben also weniger Vorbilder, wie man selbstsicher auf andere zugeht und mit ihnen Kontakt aufnimmt», so Cina.

Betroffene Eltern befürchten, dass ihr Kind von anderen be- oder verurteilt werden könnte. Folglich versuchen sie, ihr Kind vor entsprechenden Situationen zu schützen. Mit gravierenden Folgen: Kinder, die unter dem Einfluss ihrer Eltern soziale Ängste entwickeln, sind nicht gut fürs Leben gerüstet.

Mir kommt das alles sehr bekannt vor. Und ich erinnere mich noch, wie wenig es gebracht hat, wenn meine Eltern oder andere Erwachsene mir schüchternem Kind gesagt haben: „Geh doch einfach zu dem anderen Kind und sprich es an.“ Hab ich natürlich nicht gemacht.

Warum ich heute in vielen Dingen anders bin?

Weil ich es unbedingt will. Weil ich anders sein wollte, mutiger. Weil ich mutige Freundinnen hatte, die mich mitgezogen haben. Und weil ich mir – vielleicht ganz bewusst – einen mutigen Mann gesucht habe.

Heute kämpfe ich gegen manche Ängste bewusst nicht (ich muss nicht tauchen, klettern oder rasen), gegen andere dagegen ganz kräftig. Und ich reiße mich jeden Tag zusammen, damit meine Kinder mutiger werden, als ich. In dem ich den Mund aufmache, wenn ich mutig bin und mich zurückhalte (und André das Feld überlasse), wenn ich Angst spüre.

Eine Anekdote hilft mir noch, immer wieder: Meine Eltern wollten mich vor allem beschützen: vor Verkehr, Klettergerüsten, bösen Menschen. Und was passiert mir mit 15? Mir fällt in einer Hängematte ein Ast auf den Kopf. Nicht mal meine Eltern wären drauf gekommen, mich vor Hängematten zu warnen. Das Beispiel zeigt mir, dass man neben gesunder Vorsicht einfach beten muss, dass nichts schief geht.

PS. Auf dem Bild siehst du meine Jungs in den Wellen – oder auch eben nicht. Ich konnte ihnen nur durch die Lücken zwischen meinen Fingern zuschauen.

PPS. PS: Wenn du hier gern und öfter liest, dann unterstütze uns zu gern mit einem freiwilligen Steady-Abo, damit wir mit unserem Blogmagazin noch lange so weitermachen können. Ohne euch geht es aufgrund sinkender Werbebudgets leider nicht mehr. Hier findest du alle Infos. Kostet nicht mehr als ein Latte im Monat!

Seid ihr ängstlich?

Claudi