Gestern stand ich am geschirrvollen, krümeligen, tomatensoßenfleckigen, leergegessenen Esstisch – und kein anderer war da. Bloß die Krümel und ich. Der Mann schon wieder auf dem Weg in die Kanzlei, die Kinder auf dem Weg zum Fernseher, der tagsüber eigentlich längst wieder verboten ist, dafür jetzt auch wochentags abends erlaubt. Ich stand da und konnte es nicht glauben. Hier wird der Tisch gemeinsam abgeräumt, seit ich denken kann, und dann kommt Kack-Corona und beamt meine Familie zurück in die 50er Jahre. Ich habe kurz überlegt, ob ich mir ein Schürzchen umbinde und einen Knicks mache. Dann habe ich losgemotzt…

Hier wird viel gemotzt in letzter Zeit. Ich kann es nicht anders sagen. Das Verrückte dabei: Uns geht es wirklich gut, im Vergleich zu vielen anderen. Dennoch läuft es einfach nicht gut. Nein, wartet, nicht rund. Ich denke derzeit viel darüber nach, woran das liegen könnte. Ich halte meine Familie eigentlich für eine moderne Familie, in der alle mithelfen, dass der Laden läuft. Natürlich klappt das nicht immer, auch in normalen Zeiten nicht. Corona aber scheint die Taschenlampe herauszuholen und die Kleinigkeiten zu beleuchten.

Heute morgen sitze ich am Schreibtisch. Ich höre von draußen Bibi und Tina durch die Tür, außerdem Streiten und Weinen. Ich habe Abgaben, ich habe Verträge unterschrieben. Ich trage zum Haushaltseinkommen bei. Was oft nach Hobby aussieht, ist in Wahrheit auch ein Job. Ich versuche saftige Texte zu schreiben, während draußen jemand saftig Hunger hat. Ich versuche zu texten, während ich einen Playmobildrachenkopf anschraube, eine Banane öffne, einen Streit schlichte, ein Kind auf dem Schoß sitzen habe, das “uscheln” will. Ich will es ja auch, aber eben nicht jetzt. Später will das Kind nicht mehr.

Eigentlich ist mein Mann gerade dran, das ist meinen Kindern aber egal. Wenn man fünf ist oder acht und traurig, hungrig, wütend, überlegt man doch nicht, wer dran ist. Natürlich nicht. Ich motze, fummele an der zerdrückten Banane herum, im Raum liköriger Geruch, braune Bananenschmiere an meiner Hand, an mir, am Kind. Stehe ich jetzt auf und wische es ab? Schmeiße ich die Schale weg und damit meist auch den guten Gedanken im Kopf? Riskiere ich noch mehr Flecken auf dem Sofa? “André!!!!!”, brülle ich. Und höre, dass er telefoniert. Mein Mann ist Anwalt, er hat unglaublich viel zu tun. Die Welle an Insolvenzen hat bereits begonnen. Wenn ich daran denke, bin ich so dankbar dafür, dass ich überhaupt noch schreiben darf. “Manno, Leute, ich muss arbeiten”, rufe ich. Sehe eins meiner Kinder mit hängendem Kopf durch die Tür verschwinden. Sehe sein hellblondes Haar hochstehen. Könnte ihn drücken. Könnte heulen. Habe ein schlechtes Gewissen. Will mehr Wissen. Will einfach mal wieder eine Sache zur Zeit tun. Immer. Jetzt noch mehr.

“Lass deine Arbeit doch einfach eine Weile sein!”, hat mir jemand letztens geraten, als ich meinte, dass es wahnsinnig anstrengend sei. Und damit die Taschenlampe draufgehalten, auf das was ich tue. Ist es wirklich wichtig, Menschen mit Geschichten, Interviews und Bastelanleitungen zu unterhalten? Ist es systemrelevant genug Brötchen zu backen? Oder würde Knäckebrot reichen? Ist Klopapier plötzlich systemrelevant? Oder sind es bloß Ärzte? Noch mehr als sonst beginnen Menschen andere Menschen und ihre Jobs in Sachen Sinnhaftigkeit zu bewerten. Die Lehrer sowieso. Über die Mütter der Mittelschicht regen sich viele auf, weil es uns doch eigentlich so gut geht. Wie es da sein könnte, dass es wir frusten, weil wir es scheinbar nicht aushalten, mal ein paar ganze Tage mit unseren Kindern zu verbringen. Wer darf sich eigentlich beklagen?

Jeder! Denn Frust unterscheidet nicht nach systemrelevant oder nicht. Bei jedem lodert es doch irgendwie. Manchmal möchte ich mich abends ans Fenster stellen und für all die Eltern klatschen, die vielleicht keinen systemrelevanten Beruf haben, die das System doch aber dennoch am laufen halten. Und ja, ganz ehrlich, was ich hier mache hält auch mich zusammen. Mein Hirn-und-Herz-System. Ich glaube, ohne die paar Stunden Arbeit, ohne die paar Stunden etwas anderes in den Kopf zu bekommen, sich mit Erwachsenen wenigstens schriftlich zu unterhalten, würde ich grad durchdrehen. Das hat Corona mir auch gezeigt: Wie wichtig mir das hier ist.

Siebenhundertmal am Tag den selben Holzklotz am Tag wegräumen. Muss das sein? Nein. Aber es macht was mit mir und uns wenn er und all die anderen Steine herumliegen. Mich macht es gaga. Ich wusste gar nicht, wie ordentlich ich bin bis Corona kam. Fakt ist, klar ist es viel unordentlicher, wenn wir alle immer zuhause sind. Es wird auch viel mehr gekocht. Essen verbindet, es holt uns an einen Tisch, auch wenn wir uns den halben Tag über angefrustet haben. Aber es fühlt sich in der Menge und in der Brat- und Backfrequenz schwer nach Herbergsmutter an. Und ganz ehrlich: An Tag 31 schneiden die Kinder hier auch nur noch semibegeistert die Paprika.

Außerdem gibt es viel mehr Ausnahmsweises. Das hilft auf der einen Seite, erleichtert manches, macht es auf der anderen Seite aber auch schwieriger. Es wird viel mehr diskutiert. Die Kinder sind weniger ausgelastet, sprich weniger müde. Der Sport fehlt, so richtig. Das kann keine kleine Dorfrunde ausgleichen. Nicht mal eine gemeinsamen Joggingrunde. Die Kinderzeit drängt sich immer weiter in den späten Abend hinein. Die Kinder dürfen dann fernsehen, damit André und ich mal kurz in Ruhe Wäsche machen, aufräumen, arbeiten oder durchatmen können. Ich gebe es zu, ohne ein paar Folgen Kinderserie zwischendurch geht es manchmal trotzdem nicht, andererseits sind meine Kinder hinterher oft zu nichts mehr zu gebrauchen. Das wichtige Job-Telefonat, für das ich mir damit Ruhe verschaffe, ist teuer bezahlt. Nerventeuer.

Im Netz bekomme ich manchmal den Eindruck, andere Kinder würden entweder stundenlang all die kostenlosen Ausmalbilder ausmalen, die es neuerdings im Netz gibt. Oder täglich schöne Projekte gemeinsam mit den Eltern ausprobieren. Oder aber stundenlang fröhlich durch den Wald laufen. Hier hat die Lust auf all das inzwischen die Größe eines Minitaschenlampenstrahls. Gestern habe ich Schlangen mit zwei Söhnen gefilzt. Sogar ein dritter kam interessiert dazu, für zwei, drei Minuten war da ein warmes Geborgenheitsgefühl. Nach zehn Minuten saß ich allein zwischen Seifenlaugenpfützen da und habe Schlangen geschrubbelt. Und dann gedacht: “Bin ich eigentlich bescheuert?”  

Ich vergesse mich ständig in unserem Plan. Wir haben inzwischen einen, minutiös steht darin, wer was wann macht. Zeit für mich ist bloß meine Arbeitszeit. Die fühlt sich sonst auch oft danach an, aber nicht mit zwei weinenden Kindern auf dem Schoß und der Aussicht auf Bananenmatsch überall. Vielleicht sind andere Mütter besser darin, einen Fokus zu setzen. Sich immer bloß auf eine Sache zu konzentrieren. Und vor allem besser darin Kleinigkeiten zu beleuchten. Vielleicht schaffen es andere, abends auf die paar warmen Momente zu schauen und den Tag danach im Ganzen zu bewerten. Wenn ich es mir genau überlege, gibt es natürlich auch hier mehrere Drei-Minuten-Glücks-Terrinen. Ich werfe bloß oft gleich Frustgedankendecken drüber.

Für mich steht fest: Daran möchte ich arbeiten. Ich habe jetzt zum Beispiel ein Glückstagebuch und trage seit vier Tagen jeden Tag eine Kleinigkeit ein. Jeden Tag nehme ich mir wieder vor, mehr im Augenblick zu leben. Corona ist für viele der Spot, der genau das in Szene setzt. Mir fällt es noch immer schwer, mich zwischen blinkenden Blitzlichtern auf das kleine Leuchten zu konzentrieren.  Ich arbeite daran. Jeden Tag wieder. Zum Glück ist jeder Tag eine neue Scheinwerfer-Chance.

Ich habe außerdem das Gefühl, die Kinder haben Corona-Scheuklappen gekriegt – zumindest, wenn der anstrengende Kampf ums Homeschooling erstmal ausgekämpft ist. Sie springen dann auf ferienähnlichen, regelaufgeweichten Wolken umher, sind noch mehr in ihrer Welt als sonst, sie langweilen sich, oder lesen stundenlang oder sind im Spielflow oder im Frust-Stau – in keinem dieser Zustände sind sie offen dafür, bei der Instandhaltung unseres Haushalts mitzuhelfen. André hat in der Kanzlei irre viel zu tun und ist mit dem Kopf immer schon einen Schritt weiter, außerdem kann er Chaos viel besser ausblenden als ich. Ja, ich gebe es zu, er hat auch noch mehr Fristen.

Das Verrückte: Herumliegende Schuhe stören mich sonst gar nicht so sehr. Weil ich immer schon wieder irgendwohin unterwegs bin, vielleicht. Weil wir sonst einfach nicht so viel Zeit bei uns zuhause verbringen. Jetzt bin ich den ganzen Tag da und sehne mich nach Ordnung. Vielleicht, weil ich sie in mir drin sonst so schwer finde.

Ich bin immer da und doch bin ich nicht da. Ich bin zerstreut. So viel zuhause zu sein, erinnert mich ständig daran, was ich noch alles machen muss und wollte. Ich starre ständig fassungslos auf die Nachrichtenanzeigen auf dem Handy. Corona ploppt bei Google längst auf, wenn ich bloß ein C eingebe. Ich bin in Gedanken immer schon weiter, bin beim Arbeiten am frühen Morgen schon bei der Homeschooling-Einheit am späteren Morgen, beim Mittag machen in Gedanken beim Spaziergang, beim Spaziergang denke ich an die zwei Seiten in einem Buch am Abend, die ich lese, bevor ich komatös wegdämmere.

Manchmal sehe ich mir selbst zu und bin erschrocken. Wenn ich mich über Kleinigkeiten aufrege zum Beispiel. Wenn ich mich beklage. Corona legt den wahren Charakter frei, habe ich letztens irgendwo gehört. Und erschrocken daran gedacht, wie oft ich an dem Tag gemotzt hatte. Ich habe mich bereits dabei erwischt, wie ich neidisch beim Joggen auf die Nachbarn von sechs Häuser weiter geschaut habe, weil die gemeinsam ums Lagerfeuer standen. Geht-doch-nicht-Gedanken gedacht. Gespürt, wie in mir Wut und Neid rumoren. Ich habe die Kurve noch gekriegt, tief durchgeatmet und überlegt: “Haben die es gut. Die wohnen so nah beieinander, die haben einfach ihre Kernfamilie erweitert.” Erschrocken habe ich mich trotzdem über mich selbst.

Ich erschrecke mich auch, wenn ich Freundinnen höre, die mir via Zoom erzählen, wie entspannt sie die Zeit gerade finden. Dass sie sich sogar wünschen, dass es noch eine Weile weitergehen würde. Dann denke ich an unseren Tag und denke: “Was bitte mache ich falsch?” Wieso bekomme ich es nicht schön hin, es uns schön zu machen. Vielleicht bin ich zu schönspruchsvoll?

Gwyneth Paltrow hat letztens auf Instagram gesagt, dass sie bloß zwei Gedanken in Zeiten von Corona habe: “Let me get out of this!” und “I will miss this.” Vielleicht merke ich blöderweise leider erst zu spät, dass ich etwas vermissen werde. Und ich ärgere mich, dass ich selbst vergleiche. Nicht im Hinblick auf Systemrelevanz, sondern im Hinblick auf Glück. Eins weiß ich ganz sicher, auch wenn ich motze, bin ich mir immer bewusst, dass es vielen viel schlechter geht. Vielleicht trägt auch das zum Frust bei, dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Dennoch motzt es aus mir heraus. Ich habe längst die Motzkontrolle verloren…

Apropos Kernfamilie. So hat Frau Merkel das doch genannt, oder? Genau so schreckliche Wörter wie Kontaktbeschränkung und Hygieneplan. Wörter, die so eisig klingen, dass mir kalt wird. Wörter, die ich hinterher nie wieder hören möchte. Corona hat mir gezeigt, wie sehr meine Familie und ich Freunde und Austausch brauchen. Wie wenig mir nach Desinfektion ist. Wie sehr wir öfter mal raus müssen aus unserem Familienbrei. Eine kleine Runde mit dem Rad am Sonntag hat unseren Quarantäne-Knatsch sofort unterbrochen. Das kurze Gespräch über einen Gartenzaun neue Impulse gebracht. Wir haben jetzt tatsächlich die Räder repariert, inklusive Lichter. Eine der guten Sachen, die Corona mit uns gemacht hat. Halte ich mal besser die Taschenlampe drauf!

Was ich auch noch beleuchten möchte: Wenn die ganze Sache mich schon so sehr an meine Grenzen bringt, mich so oft motzen und verzweifeln lässt, wie mag es da all den Kindern in den Familien mit Eltern gehen, die sich nicht zusammenreißen können? Die Mütter und Väter, nicht spät abends noch am Deich laufen gehen können, um alles rauszulassen und sich endlich mal wieder frei zu fühlen. Laut der Süddeutschen Zeitung gibt es bei der “Nummer gegen Kummer” , dem größten kostenfreien Beratungsangebot, eine Steigerung der Nachfrage um 21 Prozent. Noch schlimmer steht es definitiv um die, die nicht anrufen.

Es ist noch lange kein Ende in Sicht. Seit gestern steht fest: Die meisten Läden machen wieder auf. Kitas und Schulen nicht. Klar, Kinder können sich kaum an Hygienemaßnahmen halten, die kabbeln und kuscheln und spielen danach Fußball miteinander. Dennoch denke ich an all die Alleinerziehenden, an all die von Gewalt bedrohten Kinder und ja, auch an all die ganz normalen Familien da draußen, die einfach nicht mehr können. Übrigens auch an die Kinder zwischen acht und achtzehn, die ohne Gleichaltrige gefühlt langsam gaga werden.

Ich bin froh für all die kleinen Unternehmen! Aber wie schreibt jemand so schön auf Instagram: Wir brauchen keine Schuhe, wir brauchen unsere Freunde! Vielleicht wäre eine offizielle Erlaubnis für kleine, privat organisierte Kindergruppen eine riesengroße Hilfe? Dabei könnten Eltern in einem übersichtlichen Kreis abwechselnd die Kinder betreuen, sich dadurch entlasten und die Kinder könnten endlich mal wieder miteinander spielen. Liebe Minister, wäre das vielleicht etwas?

Und sagt mal, wie geht es euch wirklich?

Alles Liebe,

Claudi