„Na ja“, meinte sie und hob ihr Kinn, „eure Böden sind schon teilweise grenzwertig.“  Ich schluckte und schaute beschämt auf unsere krümelgesprenkelten Dielen. Erst später fiel mir auf, dass meine Freundin damit meine Grenze überschritten hatte. Nicht weil sie Unrecht hatte. Sondern weil sie Recht hatte. Und ich frage mich bis heute: „Wie ehrlich sollten Freunde sein?“ Beziehungsweise: Was sollten sich Freunde sagen – und was besser nicht…?

Den eigentlichen Impuls für diesen Text gab mir ein Kalenderblatt: „Wer sich über Kritik ärgert, gibt zu, dass sie verdient war.“ Bei mir im Kopf blinkten sofort Krümel auf. Gleich mehrere Sätze schossen mir in den Kopf, die ich mal von Freunden und Familie gehört und danach nie wieder vergessen habe. Was erstaunlich ist, bei all den Milliarden von Worten und Sätzen, die uns täglich um die Ohren fliegen.

Es gibt Menschen, die hauen einem ungefragt alles um die Ohren.

„Ich darf doch meine Meinung sagen!“, ist ihre Meinung dazu. Ich stand schon öfter da und ärgerte mich im Nachhinein, dass mir im ersten, baffen Moment kein kompetenter Gegenspruch einfiel. Und dass ich scheinbar leider so doof empfindlich bin. Denn sollten Freunde nicht ehrlich sein?

Der Psychologe Rolf Schmiel sagte einmal in einem Interview: „Echte Freunde dürfen dir in den Hintern treten und dich in den Arm nehmen.“ Und ja, manchmal habe auch ich das Gefühl, dass Konflikte und Ehrlichkeit Freundschaften auf einen innigeres Level katapultieren? Mir fallen unzählige Situationen ein, in denen ich dankbar bin, dass mir jemand die Wahrheit gesagt hat. Aber auch Dutzende, die mich verletzt haben. Was macht den Unterschied?

Hätte ich auf eine Freundin gehört, wäre ich heute nicht mit meinem Mann verheiratet.

„Zu jung, zu verspielt…!“, hatte sie damals gemeint. Ich bin heute sehr glücklich – und denke daher grinsend an diesen Tipp zurück. Und ja, ich hatte sie nach ihrer Meinung gefragt, wir waren uns sehr nah und es war die richtige Situation, um sowas anmerken zu dürfen. Ich war dankbar, denn sie gab mir die Möglichkeit, nochmal kritisch über so eine krasse Entscheidung wie „für immer“ nachzudenken.

Doch das Ufer ist unsicher: Was kann und sollte ich sagen? Was für mich behalten? Muss ich meiner Freundin mitteilen, dass mir ihr Unkraut zu lang ist? Dass ich ihren Job für überflüssig halte? Dass ich finde, dass ihr Baby Ähnlichkeit mit Steve Urkel hat? Dass ihr das neue Kleid überhaupt nicht steht? Dass ich das Gefühl habe, sie verhätschele ihr Kind?

Freundschaft heißt, einen Menschen so hinzunehmen, wie er ist.

So wie eine Ehe keinen Sinn macht, wenn ich ständig an meinem Partner herumkritisiere. Wahrheit braucht zudem den richtigen Zeitpunkt. Und manche Punkte brauchen keine Wahrheit. Die Wahrheit meiner Freundin war ihre Wahrheit. Auch wenn sie nach gesellschaftskonformen Maßstäben sicher viele finden würde, die ihr Recht gäben. Aber wer ständig kritisiert, sorgt dafür, dass Gespräche oberflächlich werden.

Oft tut ausgesprochene Kritik vor allem weh, die mich etwas vorher schon piekste. Oder ich das Gefühl habe, die Person hat überhaupt keine Ahnung von meinem Leben. Bei der Freundin mit der Fußbodenkritik waren die Böden tatsächlich tadellos. Allerdings hatte sie seit der Geburt ihres Kindes nicht mehr gearbeitet, eigentlich noch nie so richtig. Im Gegensatz zu mir hatte sie bloß eine Wohnung zum Vollkrümeln statt ein Haus, nur ein Kinder statt vier und nur einen Carearbeit Job, statt wie ich eine Selbstständigkeit plus einen Job als Lehrerin.

Es war mir vorher nicht in den Sinn gekommen und ich hätte mir niemals angemaßt, ihr Leben als leichter zu betiteln. Aber nach diesem Spruch habe ich mich hundertmal geärgert, dass ich ihr diese Gedanken nicht ebenfalls um die (sauberen!) Ohren geworfen habe. Vielleicht habe ich als Einzelkind aber auch einfach nie so richtig gelernt, dass man sich heftige Sachen sagen und danach trotzdem wieder gut miteinander sein kann?

Ich glaube, heute wäre es anders.

Weil ich weiß, dass es mir damals eigentlich bloß so weh getan hat, weil mich die Krümel selbst so störten. Weil ich damals noch glaubte, dass alles ginge: Vier Kinder plus zwei Jobs plus perfektes Haus. Heute akzeptiere ich die Krümel, weil mir vieles wichtiger ist, als sie wegzufegen. Und ich erkannt habe, dass mein Selbstwert nicht von Krümelfreiheit abhängt, sondern dass ich die Freiheit habe, meine Krümel zu wählen.

Wie ehrlich sollten wir also sein? Wie raushaufreudig? Für mich ist ein wichtiger Indikator, ob mich jemand nach meiner Meinung fragt. Eine Freundin erzählte mir mal traurig, dass eine Freundin sie vor Jahren verwundert gemustert und gesagt hätte, dass es schon erstaunlich wäre, dass so kleine Brüste wie ihre hängen könnten. Bis heute schnürt sie deshalb ihren Busen hoch, denkt bei jedem Blick in den Spiegel dran.

„Aber wolltest du denn wissen, wie sie deine Brüste findet?“, fragte ich entsetzt.

Wollte sie nicht. Vielleicht ist das das Geheimnis? Auch Psychologe Ralf Schmiel rät Ähnliches. Auf die Frage, ob man seiner Freundin stecken solle, dass man ihren neuen Partner nicht leiden kann, rät er: „Wenn man etwas Ungutes über diesen Menschen weiß, eine schlechte Erfahrung mit ihm gemacht hat oder es irgendwas Konkretes gibt, dann raus damit. Ist das Nichtmögen bloß ein Gefühl, dann lieber Mund halten.“

Wie ehrlich seid ihr? Und wie viel Ehrlichkeit wünscht ihr euch?

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Alles Liebe,

Claudi