Als wir vor drei Jahren unser Haus bauten, fragten wir meinen Vater, ob wir ein Zimmer für ihn einplanen sollten. Für irgendwann, wenn er mal nicht mehr so kann, wie er will. Für den Fall, dass er irgendwann Hilfe braucht. Für den Fall, dass er Pflege braucht. Allein das Wort auszusprechen war seltsam. Und die Gedanken dazu noch schräger – für mich UND für ihn. Wer stellt sich schon gern vor, dass die eigenen Eltern, diese Felsen in der Brandung des Lebens, irgendwann bettlägerig sein könnten? Und wer malt sich schon gern den Ausklang des eigenen Lebens aus…?

Mein Vater murmelte damals etwas von, er würde darüber nachdenken und noch mal Bescheid geben. Und dann haben wir nie wieder darüber gesprochen. Erleichtert, dieses schwierige Thema meiden zu können. Es zu verdrängen, wie man schwierige Themen gern verdrängt, so lange sie nicht den unmittelbaren Alltag betreffen. Und gleichzeitig mit schlechtem Gewissen, weil: Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem das Thema akut wird. Mitunter schneller, als einem lieb ist. Und dann ist man eigentlich besser darauf vorbereitet.

Wann ist der passende Zeitpunkt, mit den Eltern übers Altern zu sprechen?

Darüber, wie sich ihren Lebensabend vorstellen? Schon lange bevor es ansteht – oder erst, wenn Handlungsbedarf besteht? Denn es geht um so viel mehr als um vorausschauende Planung. Es geht darum, sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinanderzusetzen. Sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, irgendwann keine elterlichen Ratgeber, Fürsprecher, keine Mutter und keinen Vater mehr zu haben. Es geht darum, anzuerkennen, dass man so erwachsen ist, dass sich die Kraftverhältnisse zwischen Eltern und Kindern verschieben, manchmal unmerklich – und manchmal auf einen Schlag, buchstäblich. Und das ist ziemlich aufreibend.

Ich denke gerade häufiger an meine Großmutter zurück. Sie lebte in der oberen Etage meines Elternhauses, das vorher ihr Haus war. Meine gesamte Kindheit hindurch war sie da – brachte meine Schwester zur Kita und holte sie wieder ab, las uns Kindern stundenlang vor, versorgte uns mit Snacks Geschichten, ihrer Gesellschaft.

Sie hatte eine Aufgabe – bis sie nach einem Sturz bettlägerig wurde und sich nicht mehr um uns kümmern konnte.

Jetzt war es an uns, dass wir uns um sie sorgten, ganz selbstverständlich. Soweit ich weiß, stand es nie zur Debatte, dass sie in ein Heim umziehen sollte. Dass wir es jemand anderem überlassen wollten, sie zu pflegen. Und so verbrachte sie die letzten Monate ihres Lebens in ihrem Schlafzimmer, von uns mit Snacks, Geschichten und Gesellschaft versorgt. Wir sahen dabei zu, wie sie immer weniger wurde, immer weniger Teil dieser Welt war.

Ich fand es nicht schlimm – bis zu dem Tag, als ich allein mit ihr zuhause war und sie einen Erstickungsanfall hatte. Ich war 13 und in Panik, aber immerhin so geistesgegenwärtig, die Nummer ihres Hausarztes zu wählen, der die Rettung rief. Sie starb zwei Tage darauf im Krankenhaus. Auch wenn ich es richtig fand, sie bis zum Schluss bei uns zu behalten: Seitdem habe ich eine Ahnung davon, was es auch psychisch heißt, die eigenen Angehörigen zu pflegen. Ihnen zur Seite zu stehen, wenn es ihnen schlecht geht, wenn sie Schmerzen haben, wenn sie nicht mehr wollen. Das muss man auch aushalten können. Das muss man wirklich wollen.

Und doch scheint diese Idee der Großfamilie, die sich in allen Lebenslagen gegenseitig stützt, immer noch eine schöne.

Dass niemand allein ist, in guten und auch in schlechteren Tagen nicht. In unserem Freundeskreis sind bereits einige Eltern in letzter Zeit ihren erwachsenen Kindern, ihren Enkelkindern hinterhergezogen, teilweise durchs halbe Land. Haben im Alter noch einmal mutig Wohnort und Lebenstrott verändert, um näher bei der Familie zu sein. Um einen gemeinsamen Alltag zu teilen und nicht nur die obligatorischen Festtage. Mit dem Gedanken, jetzt ihre Familien mit kleineren Kindern, so gut es eben geht, zu unterstützen. Und vielleicht irgendwann in der Zukunft selbst gestützt zu werden, wenn die Kraft nicht mehr für viele und vielleicht auch nicht mehr für sie selber reicht.

Nun ist es ja so, dass die meisten Menschen räumlich gar nicht die Möglichkeit haben, ihre Eltern im Alter aufzunehmen.

Für den Großteil wird ein Heimplatz oft die einzige Möglichkeit sein, auch wenn die Vorstellung nicht eben angenehm ist. Mein Vater hat mir irgendwann einmal gesagt: “Bevor ich ins Heim gehe, erschieß ich mich lieber!” Nicht, dass ich das wirklich glauben würde. Aber ich weiß zumindest, dass das für ihn die schlimmste Vorstellung ist, wie er sein Lebensende verbringt. Insofern braucht es andere Ideen – in unserem Haus ist jetzt kein Zimmer vorgesehen. Wir müssten wohl mal wieder darüber sprechen.

Aber darüber zu sprechen heißt eben auch, dem anderen seine Stärke, seine Selbstwirksamkeit abzusprechen – selbst wenn all das noch in der Zukunft liegt. “Altern ist nichts für Feiglinge”, heißt es. Und ich glaube, da ist so viel mehr dran, als die Schnoddrigkeit dieser Aussage. Denn es braucht wirklich Mut, sich diesen Gedanken zu stellen – für die Kinder und die Eltern. Es braucht Fantasie, um sich mögliche Szenarien auszumalen, was passieren kann, was realistisch ist, für alle Beteiligten – finanziell, zeitlich, konstitutionell. Und will man sich das Ende so detailliert vorstellen? Eher nicht.

Bevor meine Mutter nach langer Krankheit starb, wusste ich, wie sie sich ihr Ende vorstellte.

Wie sie beerdigt werden wollte, wie ihre Trauerfeier sein sollte (hier habe ich schon einmal über sie, ihren Tod und meine Trauer geschrieben). Und es hat uns als Familie später sehr geholfen, dass wir uns etwas halten konnte, das in ihrem Sinne war: Viel Farbe statt Schwarz, bloß keine Gerbera in den Trauergestecken und statt eines tristen Leichenschmauses ein Erinnerungsfest mit allen Freunden.

Insofern möchte ich eigentlich doch gern wissen, was mein Vater sich für sein Alter wünscht. Für den Fall, dass er es mir irgendwann nicht mehr sagen kann – dann will ich nach seinem Willen handeln können: Ist es die häusliche Pflege in seiner vertrauten Umgebung? Oder doch vielleicht bei uns – wir könnten Platz schaffen, wenn er es wollte (und wir dann auch). Denn es hilft einem in emotionalen Ausnahmezuständen enorm, wenn man nicht haltlos in Optionen schwimmt.

So schwer es auch ist: Ich finde den Dialog – auch den inneren – dennoch gerade gut.

Weil er mir bewusst macht, dass mein Vater und ich jetzt noch eine Beziehung auf Augenhöhe haben. Eine, in der mein Vater mein eigenständiger Vater ist und ich seine erwachsene Tochter. Eine Beziehung, in der sich die Kräftefelder zwar manchmal minimal verschieben, aber noch weitestgehend intakt sind.

Es macht mir bewusst, dass wir diese gute Zeit gerade unbedingt nutzen sollten für all das Schöne, das wir gern teilen – gutes Essen, Anekdoten, Familienzeit. Und ich hoffe inständig, dass diese Zeit noch lange geht. Und dass wir darin den passenden Zeitpunkt finden, die wichtigsten Punkte für später kurz zu klären. Danach können wir das Thema auch gern wieder beiseiteschieben…

Wie ist es bei euch: Sprecht ihr mit euren Eltern über das Alter, gibt es Pläne? Oder pflegt ihr vielleicht bereits Angehörige?

Alles Liebe,

Katia