Vor Jahren saß ich mit einem meiner Söhne auf einer italienischen Parkbank. Wir aßen Eis und um seinen Hals baumelte eine Geldbörse mit Urlaubsgeld von Oma. Trotzdem schien ihn etwas zu bedrücken. Er kickte missmutig mit seinem Fuß in die vertrockneten Blütenblättern auf dem Boden. “Sag schon, was ärgert dich so?”, fragte ich leise. Er zog seine Augenbrauen zu einer weißblonden Linie zusammen. “Es ist so ungerecht!” raunte er…
Während wir Schoko schleckten, bekam ich raus, was ihn bedrückte. Es war das Geld und die Möglichkeit, sich davon alles kaufen zu können. Oder eben nicht. Mein Sohn wusste genau, was er wollte. Er wollte nichts vom Strandkiosk. Er wollte das, was er sich schon vor einer Weile in unserem Stammspielzeugladen ausgesucht hatte. “Aber das ist doch super!”, meinte ich. “Nein!”, sagte er matt. “Weil ich so gern den lila Lego-Drachen hätte. Aber wenn ich mir den kaufe, lachen die anderen.” Er biss sich auf die Lippe und kickte in den Boden. “Es ist so ungerecht, Mama!”, sagte er und schaute mich mit glasigen Augen an.
“Mädchen dürfen sich alles kaufen, aber Jungs nicht.”
Das war der Moment, in der in mir eine Stinkwut aufkochte. Auf die Stereotypen in unseren Köpfen, auf die Spielzeugindustrie, auf die gesamte Gesellschaft. Wer waren wir, dass wir noch immer Kindern per Farb-, Regal- und Katalogauswahl vorschrieben, mit was sie zu spielen hatten? “Das ist Quatsch!”, rief ich entschlossen und drehte ihn an der Schulter sanft zu mir. “Das ist ganz großer Blödsinn. Du darfst mit allem spielen, was du möchtest, dir alles kaufen wofür dein Geld reicht und wer etwas anderes sagt, der hat Unrecht.”
Er lächelte unsicher und wischte eilig ein wenig Feuchtigkeit aus den Augen. Dann sprachen wir lange über den lila Drachen, den er Airi nennen wollte und der gleich nach dem Urlaub bei uns einziehen würde. Tat er auch, wurde heiß geliebt und nie hat ein anderes Kind irgendeinen Spruch darüber gemacht. Und wenn doch, hat mein Sohn hoffentlich einen zurück gemacht. Airi ist in unserer Familie zum Synonym geworden, blöde Stereotypen nicht hinzunehmen und mit unseren Jungs immer wieder dagegen anzukämpfen. Es verlangt Mut, zu seiner Meinung zu stehen. Aber mittelfristig wird dadurch Mut haben immer einfacher.
Wie schön, dass es Bücher gibt, die uns helfen, mutiger zu werden.
Der Verlag Oetinger hat eine ganze Reihe von Büchern im Programm, die Kinder und Jugendliche schlauer, kritischer und damit mutiger machen wollen. Unser Lieblingsbuch ist “99 bescheuerte Lügen über Jungs, die du nicht glauben solltest.” Autor Felix Treder widerlegt darin gleichzeitig lustig und entschlossen blöde Vorurteile. Müssen Männer eine tiefe Stimme, einen dichten Bart und dicke Muskeln haben, um richtige Männer zu sein? Spoiler: Natürlich nicht.
Dazu schreibt er über Dinge, die nicht mutig, sondern einfach doof sind. In Punkt 68 zum Beispiel, geht es darum, ob es okay ist, Mädchen, die man toll findet anzustarren. Treder schreibt dazu: “Du kennst das vielleicht. Du sitzt irgendwo draußen und ein sehr hübscher und attraktiver Mensch geht an dir vorbei. Du hast das Gefühl, hinschauen zu müssen. Dabei gibt es jetzt das Hinschauen und Anstarren. Irgendwo schauen wir immer hin – wir haben nun mal Augen im Kopf. Und manchmal gucken wir andere Menschen an. Cool.
Wenn wir unseren Blick allerdings die ganze Zeit wie ein Wahnsinniger nur auf eine Person richten, dann kann das für diese ganz schön unangenehm werden. Das ist Anstarren. Anstarren ist also eine Form von sexueller Belästigung… (…) Am Schluss jedes kleinen Kapitels gibt es Tipps, wie man es besser machen könnte: Nicht starren (ha,ha). Schauen ist in Ordnung, aber gleichzeitig versuchen, sich in die andere Person hineinzuversetzen. Würde ich mich an ihrer Stelle wohlfühlen….?
Es ist wahnsinnig inspirierend, durch Bücher mit seinen Kindern ins Gespräch zu kommen.
Im dem Buch “Know your rights” klärt Politologin Claudia Kittel zum Beispiel in verständlicher Sprache darüber auf, welche Rechte Kinder haben und fordert sie auf, dafür einzutreten. (Mein Interview mit Claudia Kittel könnt ihr noch immer auf der Instagram-Seite vom Oetinger Verlag unter Videos ansehen. Sehr, sehr spannend!)
Die 19 Jährige Livia Josephine Kerp macht in “How to Politik” Lust aufs Mitbestimmen und sich einsetzen. Ihr Schreibstil ist herrlich frisch und frech. Ein aufregend anderes Tagebuch für junge Menschen ab 12 ist “Wir alle” von Silvia Schröer. Darin motivieren viele Fragen und Herausforderungen, sich seiner selbst bewusst zu werden und eine Haltung zu sich selbst und den wichtigen Themen dieser Welt zu entwickeln: Was macht mir Angst? Bin ich wirklich so offen und frei von Klischees, wie ich denke? Die wahrscheinlich aufregendste Art, Tagebuch zu schreiben!
Wie fast alle Legoteile, liegen auch Airis Einzelteile längst zerpflückt in der Spielzeugkiste im Kinderzimmer. Sein lila Kopf aber liegt als kleine Erinnerung im Flurregal und flüstert: “Mut tut gut!”
Übrigens: Hübsche Mutmachersätze wie diesen findet ihr bei Oetinger als kostenlosen Download.
Foto 2: Louisa Schlepper
Alles Liebe,
Liebe Ckaudi,
Das Problem bei dieser Sache ist ja, dass Jungs kein “Mädchenspielzeug/Farben” nutzen können, da es weibliche konnotiert ist und somit das Weibliche abgelehnt wird. Mädchen dürfen auch mit “Jungssachen” spielen, da alles, was männlich konnotiert ist, positiv gewertet wird.
Somit fühlen sich die Jungs oft ungerecht behandelt, was ja auch stimmt, dich ist das, was dahinter steckt, nämlich die Abwertung von was ist weiblich, noch viel weitreichender!
Liebe Grüße, Annika
Liebe Annika, danke dir, das ist ein interessanter Gedankengang. Allerdings habe ich das bisher nicht so erlebt. Im Gegenteil: Ich habe das Gefühl, dass angebliches Mädchenspielzeug bei vielen Frauen sehr viel positiver bewertet ist. Dass viele aber einfach das Gefühl haben, dass das nichts für Jungs sei. Es aber gleichzeitig schade finden.
Das habe ich oft beobachtet.
Liebe Grüße,
Claudi
Ein toller Text und tolle Buchvorschläge!! Da wird das eine und andere bei uns einziehen!
Ich mag es im übrigen sehr, wenn du solche “großen-Kinder-Tipps” zu welchem Thema auch immer gibst. Meine zwei Söhne sind ziemlich genau so alt wie deine zwei Ältesten und ich finde es schwierig, für Kinder in diesem Alter gute Tipps/Gedankenanstöße/… was auch immer zu bekommen. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich dir folge! Aber nicht der einzige :-))
Viele Grüße,
Myriam
Liebe Myriam, ganz lieben Dank und ich freue mich auch, dass dir die Buchtipps gefallen.
Liebe Grüße,
Claudi
Ich hab da mal eine ganz nette Infografik gesehen:
„How to tell if a toy is for girls or for boys. A guide.
Do you operate the toy with your genitalia?
-> Yes? This toy is not meant for children.
-> No? This toy is for either girls or boys!“
😉
Hat mir gefallen. Und wenn hier blöde Klischee-Sprüche kommen stelle ich mich immer dumm und frage unverschämt zurück: „Was hat den das Vorhandenseins eines Penis damit zu tun, ob mein Sohn lange oder kurze Haare haben darf?!“
(Ganz schade ist leider, dass hier auch unter (Kleinkind)pädagogInnen immer noch ziemlich altmodische Zugänge herrschen. Hola die Waldfee, was ich da schon gehört habe…!)
P.S.: Das Foto mit euren 4 Jungs oben ist so dermaßen bezaubernd! <3
Haha, ja, das ist spannend. Und ja, ich habe leider auch schon haarsträubende Sachen in diesem Zusammenhang von ErzieherInnen und LehrerInnen gehört.
Schade!
Alles Liebe,
Claudi
Hey, toller Text. Wir haben 2 Mädels im Haus die haben Puppen und Autos und niemanden stört es, aber oft kommen Jungs zum Spielen und freuen sich über den Puppenwagen oder den Schminkkoffer. Und sagen das hätt ich auch gern, aber Mama sagt ich darf nicht! Schade das auch heute noch soviele Eltern so Engstirnig sind.
Oh ja, sehr schade. Aber toll, dass sie es wenigstens bei euch ausprobieren können.
Liebe Grüße,
Claudi
Ich habe eben erst gelesen, dass euch mein Buch auch gefällt. Ich freue mich sehr, denn das Thema Politik wird für unsere junge Generation immer wichtiger. Und deshalb muss man sich damit auskennen. Ich wünsche euch einen wunderschönen Tag. Livia Kerp
Danke Livia, wie schön, hier von dir zu lesen.
Alles Liebe,
Claudi