Ich hatte mich sechseinhalb Jahre lang ganz gut in meinem Einzelkind-Dasein eingerichtet, als ich noch eine Schwester bekam. Sagen wir mal so: Ich hatte mich nicht unbedingt danach gesehnt. Es gibt ein Foto von uns beiden, als sie vielleicht ein Jahr alt ist: Ich schaue sie an wie etwas, das ich liebend gern zurückgeben würde. Gut, dass ich dazu keine Gelegenheit hatte. Sie würde in meinem Leben verdammt fehlen…
Dabei ist Geschwisterschaft im Sinne von Komplizendasein nicht unbedingt etwas Selbstverständliches. Vor allem nicht als Erwachsene. Ich kenne Geschwister, die nicht mehr miteinander sprechen. Geschwister, die auf Familienfeiern – und nur da! – höflich distanzierte Floskeln tauschen. Geschwister, die sich permanent über alles und nichts in die Wolle kriegen. Vermutlich weiß ich heute von mehr Menschen, deren Beziehungsstatus zu ihren Schwestern und Brüdern lautet: Es ist kompliziert.
Sandkastenverbundenheit scheint kein unveränderlicher Zustand.
So es denn jemals eine gegeben hat: Als meine Schwester geboren wurde, kam ich in die Schule. Als ich von zuhause auszog, war sie 13. Uns trennten formal Welten: Alter, Temeprament, Lebensphasen. Und doch teilen wir seit Kindheit an eine Vertrautheit, die uns bis heute trägt. Teilen gemeinsame Urlaubserinnerungen, die Vorliebe für Bücher, gutes Essen und Musik für jede Lebenslage. Das Gefühl von Familie, wie wir sie erlebt haben – und die uns für immer prägt.
Ich weiß, womit ich sie garantiert zum Heulen bringe. Sie weiß von Dingen, die niemand anderes je erfahren wird. Oft reicht uns ein Blick, dass wir uns blind verstehen. Hätte ich heute eine Wahl – sie wäre eine meiner engsten Freundinnen.
Nur: Genau daran können erwachsene Geschwister auch scheitern.
Dass sie erst eben keine Wahl hatten. Dass ihnen ungefragt ein oder mehrere Geschwister vor die Nase gesetzt wurden. Mit denen sie sich mal mehr, mal weniger gut durch ihre Kindheit geschlagen haben, immer im Spannungsfeld aus Rivalität und Loyalität. Und wenn sich alle irgendwann erwachsen in die Welt versprengen, alle endlich freiwillig wählen können, wen sie tagtäglich vor der Nase haben wollen: Dann fängt es mitunter eben an kompliziert zu werden.
Denn wie jede Beziehung im Erwachsenenalter erfordert auch die zu Geschwistern Arbeit. Und weil keine Geschwisterbeziehung frei von Altlasten wie Eifersucht, Konkurrenzdenken oder anderen Verletzungen ist, kann das Miteinander schnell kippen. Wenn das ein paar Mal zu häufig passiert, wird der Kontakt eben loser. Oder löst sich ganz auf. So einfach. So traurig.
Meine Schwester kriegt immer noch die Krise, wenn ich sie bei Planungen übergehe.
Ich finde sie häufig super sensibel. Klar, dass wir zwei uns gegenseitig so auf Zinne bringen können wie niemand anderes. Aber wir haben uns mal geschworen, dass wir immer wieder aufeinander zugehen, ganz gleich, was passiert. Damit uns nicht irgendwann Welten trennen. Und nicht nur unterschiedliche Lebensentwürfe.
Denn so sehr sich unser Lächeln immer noch gleicht – unsere Alltag tut es nicht: Ich als Dreifach-Mom auf dem Land mit Haus, Garten und kultureller Ödnis um mich herum. Sie mitten im brodelnsten Bezirk Hamburgs, kinderlos glücklich und in den Theatern, Kinosälen und Konzertlocations der Stadt zuhause.
Was uns zusammenhält, ist das Verständnis füreinander.
Dass wir uns lassen können, nicht in Frage stellen, was die andere gewählt hat. Dass wir dennoch füreinander da sind. Und sei es nur als Fluchthelfer aus unserem 24/7-Dasein: Sie tankt bei mir Familie, ich bei ihr Freiheit. Sie bespaßt die Kinder, ich schlaf nach einer Kieznacht auf ihrer Couch. Sie bewundert mein Hochbeet, ich ihren lässigen Street-Style vom Flohmarkt. Wir würden im Leben nicht miteinander tauschen wollen – und geben dem anderen doch immer Rückendeckung.
Wenn uns das Leben übel mitspielt. Und auch, wenn es nach Hurra und Konfetti verlangt. Wir vermehren unsere Freude – und teilen unseren Schmerz. Wir haben gemeinsam Beziehungen nachgetrauert, Schwangerschaften bejubelt, Fehler vergessen gemacht. Wir haben in einer Schwestern-WG gewohnt und unsere Mutter für immer verabschiedet.
Kaum ein lebensveränderndes Erlebnis in meiner Biografie, an dem meine Schwester nicht teilgehabt hätte. Das aufzugeben, wäre wie ein Teil meiner Selbst zu löschen.
Kürzlich musste ich an unsere Oma denken. Ihre engsten Kontakte waren bis zum Schluss ihre Schwestern. Ich seh sie noch zusammensitzen, drei alte Damen mit schlohweißen Haaren, die kichernd am Kaffeetisch sitzen. Drei von zwölf Geschwistern, die immer zusammengehalten haben, gegen alle Widrigkeiten des Lebens. Verbunden durch Vertrautheit. Drei Menschen, deren längste Liebesbeziehung die zu ihren Geschwistern war. Ich hoffe, dass meine Schwester und ich da auch irgendwann sind. Kichernd und dankbar, uns immer noch zu haben.
Und wie steht ihr zu euren Geschwistern?
PS: In dieser aktuellen Publikation werden explizit erwachsene Geschwisterbeziehungen beleuchtet – sehr wissenschaftlich zwar, aber echt spannend.
PPS: Hier habe ich schon einmal über Geschwister geschrieben – damals noch unter meinem Pseudonym.
Alles Liebe,
Meine 7 Geschwister gehören auch zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben. In echten Krisen renne ich als erstes zu ihnen, denn sie verstehen mich einfach am besten.
Hej Manuela, wow – bei sieben Geschwistern hast du definitiv eine große Auswahl an Persönlichkeiten! 🙂 Und: Wie wunerschön, so starke Familienbande zu haben. Ich könnte mir ein Leben ohne meine Schwester nicht vorstellen. Alles Liebe!
Leider bin ich ohne Geschwister aufgewachsen. Ich habe sie immer sehnlichst vermisst…
Hej Katrin, das glaube ich dir! Immerhin musstest du nie um die Schokolade kämpfen…😉Alles Liebe!
Liebe Katia, vielen Dank für diesen wunderbaren Text! Leider habe ich nur eine Schwester und wir hatten noch nie einen guten Draht zueinander. Ich beneide dich um eure enge Bindung. Das habe ich immer vermisst… Wir sind einfach zu verschieden und nein, meine Schwester wäre ganz sicherlich KEINE Freundin von mir. Aber trotz allem bin ich froh, dass es sie gibt!🤷♀️
Liebe Kirsten, und vielen Dank für dein nettes Feedback! Ist es nicht verrückt, dass wir uns unseren Geschwistern selbst dann verbunden fühlen, wenn wir nur lose mit ihnen verbunden sind…? Es ist so oder so ein ganz spezielle verbindung, wenn auch nicht immer eine sinnstiftende. Aber ich finde ja auch, dass enge Freunde einen ähnlichen Status einnehmen können. Alles Liebe!
Danke für den schönen Text.
Ich habe einen älteren Bruder und wir hätten definitiv gar nichts miteinander zu tun, wenn er nicht mein Bruder wäre.
Uns trennen nur 2,5 Jahre und wir haben als Kinder auch recht viel miteinander gespielt.
Aber unterm Strich muss ich sagen: Er war nie wirklich nett zu mir. Ich wollte ihm immer gefallen und habe deshalb, wenn mal was Nettes kam, dankend „hier“ geschrien. Dafür bin ich nun mit zwei Kindern zu alt und zu beschäftigt. Er ist leider auch ein ähnlich schlechter Onkel, was alte Wunden aufreißt. Auch jetzt interessiere ich mich mehr für seine Kinder als andersrum.
Er checkt das leider nicht, aber das kann keine Entschuldigung sein.
Ich komme mehr und mehr zu dem Punkt. Das Thema ist durch, was es natürlich nie wirklich sein kann. Aber man muss sich auch selbst vor Verletzungen schützen. Höflichkeiten austauschen und gut.
Leider sind die Eltern ja immer noch sehr traurig, wenn sich die Kinder nicht verstehen.
Manchmal glaube ich, er wurde im Krankenhaus vertauscht…aber ein paar Ähnlichkeiten sind doch da. 🤭
Liebe Hilde, ich kann mir vorstellen, dass es dich traurig macht, keinen guten Draht zu deinem Bruder zu haben. Aber ich finde, du machst es genau richtig: Auf Distanz gehen, wenn dir der Kontakt (oder dessen Fehlen) nicht gut tut. Familie kann man sich eben nicht aussuchen – und manchmal passt es eben leider nicht. Dass man dennoch auf besondere Art verbunden ist, kann Fluch und Segen sein. Es ist in jedem Fall etwas Besonderes. Alles Liebe!
Ich habe mir immer Geschwister und Cousins und Cousinen gewünscht. Dafür pflege ich meine Freundschaften sehr intensiv. Es sind nicht wenige, aber jede auf ihre Weise so wichtig für mich. Das Schönste ist die Geschwisterliebe meiner 3 Kinder wachsen zu sehen.
Hej Claudia, bei meinem Trio denke ich auch immerzu: Drei sind eine Bande. Und hoffentlich bleiben sie das auch, wenn sie irgendwann groß sind… Alles Liebe!
Liebe Hilde, ich finde mich in deinen Worten zu 100% wieder. Genauso sieht es bei mir und meinem Bruder aus. Auch wir haben uns früher gut verstanden, viel gespielt und auch als junge Erwachsene einen guten Draht zueinander gehabt. Die Partnerwahl hat dies bei uns beiden komplett geändert und jetzt sehen wir uns maximal 1-2 Mal im Jahr bei Familienfeiern. Meine Kinder interessieren ihn null, während ich mich darum kümmere, dass meine Kinder ihre Cousins ab und zu sehen und unser schlechtes Verhältnis sie nicht belastet. Meine Mutter leidet sehr darunter, hat aber mittlerweile auch eingesehen, dass ich alles versucht habe und er einfach kein Interesse an einer guten Beziehung hat. Ich habe für uns die Entscheidung getroffen, den Kontakt auf diesem Minimum zu halten, aber mich nicht mehr zu ärgern oder traurig zu sein. Unsere Kinder haben tolle Kontakte zu guten Freundinnen und Freunden von uns, die ihnen Tante und Onkel ersetzen. Und ich selbst sage mir, dass jeder selbst entscheiden darf, wem er Platz in seinem Leben einräumt – mein Bruder genauso wie ich selbst. Das ist schwer zu akzeptieren, aber der einzige Weg für mich, damit umzugehen. Ich bin mir keiner Schuld bewusst, aber auch ich würde mich auf einer Party sicher nicht länger mit meinem Bruder unterhalten, wenn ich ihn dort kennenlernen würde und auch als Kollege oder Nachbar würde ich ihm aus dem Weg gehen.
Herzliche Grüße!
Hallo Katia,
Ein schöner Text. Ich habe 3 Schwestern und wir sind sehr eng miteinander verbunden. Familie wurde und wird bei uns sehr groß geschrieben.
Den Zusammenhalt und das gute, vertrauensvolle Verhältnis verdanken wir u.a unseren Eltern und Großeltern und deren Sinn und Prägung von Familie.
Ich erlebe aber auch ganz unterschiedliche Phasen unser Geschwisterbeziehung, ähnlich wie in einer Freundschaft. Mal näher, mal distanzierter, erst Recht seit die eigenen Familien gewachsen sind.
Aber wir nehmen uns immer wieder mindestens 1x im Jahr bewusst Zeit für unsere Beziehung und dann ist die Nähe deutlich spürbar und ich hoffe das es so bleibt!
Liebe Grüße, Amelie
Liebe Amelie, ich habe auch den Eindruck, dass Familiensinn etwas ist, was durch Prägung entsteht. Auch meine Familie war immer sehr darauf bedacht, die Nähe zueinander durch viel Zusammensein, Zusammenhalt zu stärken. Und ich finden den Aspekt spannend, dass die Beziehung zu Geschwistern Phasen durchläuft, das habe ich ähnlich erlebt. Alles Luebe!
Ich habe mir immer Geschwister und Cousins und Cousinen gewünscht. Dafür pflege ich meine Freundschaften sehr intensiv. Es sind nicht wenige, aber jede auf ihre Weise so wichtig für mich. Das Schönste ist die Geschwisterliebe meiner 3 Kinder wachsen zu sehen.
Hej liebe Claudia, Freunde sind so wichtig! Ich habe viele Freundschaften seit Kindheit an – das sind die Menschen, die mich mindestens genauso gut kennen wie meine Schwester. 🙂 Und auch in Freundschaftsbeziehungen ist es als Erwachsener essenziell, sich nicht aus den Augen zu verlieren, selbst wenn man nicht immer genau auf einer Wellenlänge ist. Alles Liebe!