Vergangene Woche hat hier meine Freundin Anna – Grundschullehrerin wie ich – über einen ihrer ganz normalen Schultage erzählt. Ich habe wahnsinnig viel Feedback dazu bekommen: positives, erschrockenes, dankbares, kritisches Feedback. Vielen Dank für eurer riesiges Interesse. Mit einigen Leserinnen haben Anna und ich nach dem Post viele Mails und Direktnachrichten hin und her geschickt. Unter anderem mit Jenni, die erst sehr aufgebracht war – bevor wir einen richtigen spannenden Austausch hatten…
Lehrer sein, Schulalltag
Jenni alias @smillaleona ist auch Lehrerin, kennt solche Vormittage, wie Anna ihn erlebt hat gut, hat aber mit der Zeit zu einem anderen Umgang damit gefunden. Zumindest an den meisten Tagen. Es läuft auch bei ihr nicht immer alles perfekt, aber Jenni gibt ihr Bestes. Wie Anna übrigens auch – und ganz sicher die allermeisten Lehrer ebenfalls. Irgendwann während unserer Hin- und Herschreiberei habe ich Jenni gefragt, ob sie nicht Lust hat, hier auf dem Blog über ihre Art von Schule zu erzählen. Und sie hatte. Vielen Dank dafür. Ich finde es beeindruckend zu sehen, wie sie ihren Weg gefunden hat. Und ich finde es wichtig, klar zu stellen, dass wir alle gute und schlechte Tage haben. Und warum wir alle viel öfter mal ein Lagerfeuer machen sollten – erfahrt ihr ebenfalls jetzt von Jenni.

Hallo, ich bin Jenni. Vor ein paar Tagen habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe zuerst Kommentare unter Claudis Instagrampost zum Thema Schimpfen gelesen, ganz viel Kritik an bedürfnisorientierter Elternschaft gelesen und habe dann für diese Partei ergriffen.

Doch dann las ich Annas Bericht aus ihrem Grundschullehrerinnenalltag und empfand ganz, ganz viel Mitgefühl für sie. Wie gut ich das kenne! Ich bin auch Grundschullehrerin und ganz ehrlich? Ich habe schon einmal so gebrüllt, dass ich davon husten musste und danach kaum noch sprechen konnte. Na gut – nicht nur einmal. Auch ich erlebe viele Kinder, die auf irgendeine Art und Weise außer sich sind. Ob nun durch Medieneinflüsse, außerfamiliäre Betreuungszeiten, veränderte Familienmodelle, Erziehungsmodelle (zwischen extrem autoritär und laizze-faire) – ich weiß es nicht. Aber: Ich habe für mich  die Erfahrung gemacht, dass mich das nicht weiterbringt.

Ich habe gemerkt, dass ich es bin, die einen Rahmen schaffen kann, in dem sich alle einigermaßen wohlfühlen können. Keine Schulreform, auf die ich wohl noch eine ganze Weile warten kann, keine neue Lernmethode, kein Schulbegleiter.

Gerade bin ich Klassenlehrerin in einer ersten Klasse, wir sind jetzt seit vier Wochen beieinander. In einem sechzig Quadratmeter großen Klassenzimmer mit 20 Kindern. Kinder, die aus dem Kindergarten kommen. Manche aus einem offenen System, wo sie stets tun konnten was sie wollten, manche aus Kitas mit Kleingruppen, eins aus einem Waldkindergarten. 20 Kinder mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Erfahrungen und sehr unterschiedlichen Familien mit eigenen Erziehungsstilen.

Am Anfang ist das ein sehr wuseliger Haufen und so richtig mit Schule hat es in den ersten Tagen nicht zu tun. Entgegen der allgemeinen Vorstellung sitzen viele Kinder nicht anständig am Tisch und malen Schultüten aus. Alles ist neu und aufregend, das viele Sitzen so ungewohnt! Alle Kinder möchten ganz viel Ansprache von mir und am liebsten alle fünf Minuten aufs Klo. Streitigkeiten untereinander können sie noch nicht alleine klären und ich könnte mich am besten zerreißen. Manchmal probiere ich das und dann passiert mir genau das, was ich an den Kindern beobachte – ich gerate außer mir. Schleichend. Nach dem dreißigsten „Frau Aaaaappeeeel“ und „Der Ole hat mich vom Stuhl geschubst“ bin ich genervt. Richtig genervt. Und genau das sage ich den Kindern dann auch.

Ich trommle die Kinder zusammen, rufe: „Kinder! So geht`s nicht. Wir sind alle völlig gestresst und genervt voneinander und hier im Klassenzimmer geht es heute drunter und drüber. Lernen kann so keiner.“ Ich tue so, als wäre da ein Lagerfeuer in unserer Mitte und rufe den Kindern ein bisschen verschwörerisch zu: „Wir machen jetzt Klassenrat!“ Dann darf jeder, der möchte, erzählen, wie es ihm heute in der Schule geht und wie er das von mir beobachtete Chaos wahrnimmt. Und ich höre zu. Moderiere ein bisschen, leite an wenn nötig und nehme mich vor allem, so gut es mir gelingt, zurück. Anschließend frage ich die Kinder: „Habt ihr eine Idee, was wir anders machen können? Was braucht ihr, damit es euch besser geht und hier alle konzentriert lernen können?“ Und dann kommen oft ganz schön kreative Vorschläge der Kinder. Daraus entstanden bei uns aktuell drei „Bedürfniskarten“, die für jeden zugänglich an der Tafel hängen. Die Kinder äußerten vor allem das Bedürfnis nach Bewegung und Pause. Jedes Kind darf sein Namenschild nun mit einer Wäscheklammer an eine der drei Karten anklammern und wenn nötig eine Runde durchs Schulhaus drehen, sich in der Leseecke ein Buch nehmen oder sich mit einem Freund gegenseitig mit einem Igelball massieren. Einfach so, mitten in der Mathestunde während alle anderen gerade Achten schreiben üben.

Genauso können kleine Wunder des Alltags entstehen. Vor ein paar Tagen verletzte sich ein Junge auf dem Pausenhof und er kam weinend zurück ins Klassenzimmer. Ein anderer ging auf ihn zu und fragte zaghaft: „Soll ich dich massieren?“ So viel Empathie, geboren aus unserer gemeinsamen Überlegung, was wir für uns in unserem Klassenzimmer tun können. Ich war sehr gerührt und hatte Gänsehaut.
Lehrer sein, Schulalltag, Lagerfeuer,
In einem früheren Jahrgang, wo ich als Fachlehrerin eingesetzt war, gab es vier Kinder, die ständig aneinandergerieten, zum Teil sehr heftig. Nach einem Vorfall auf dem Pausenhof, bei dem es so aggressiv zuging, dass ich zunächst brüllte und hustete, lud ich diese Kinder zu mir ein. Es gab Apfelsaft und Kekse – und die Ansage, dass das hier ganz sicher kein Nachsitzen ist. Auch hier hörte ich den Kindern einfach zu. Sie erzählten mir eine ganze Stunde von sich und hätten sicher auch noch länger weitergemacht. Sie berichteten von einem völlig überfüllten Schulhof, auf dem man sich nicht bewegen kann ohne angerempelt zu werden und dass sie das ab und zu aggressiv mache. Sie beschwerten sich darüber, dass man in der Schule nie machen dürfe, was man wolle. Sie erzählten, dass sie ihre Klassenlehrerin, die gerade im Krankenhaus war, sehr vermissten. Alles was ich tat war dafür zu sogen, dass sie sich gegenseitig zuhören. Und ebenfalls zuhören. Ich erklärte ihnen, dass ich sie verstehe könne – dass ich aber leider nicht viel an den Bedingungen verändern könne. Tatsächlich kehrte zwischen den Vieren Ruhe ein. Die Eltern berichteten später, dass die Kinder ihnen begeistert von ihrem Bandentreffen erzählt hatten.

Mir fallen einige Situationen ein, in denen ein wertschätzender Umgang mit den Kindern einen riesengroßen Unterschied machen. Ich habe selbst bemerkt, wie sich das Schritt für Schritt auf das Klassenklima auswirkt, wenn die Kinder das Gefühl haben, dass sie ernstgenommen werden und als die Menschen gesehen werden, die sie sind. Meine Rolle als Lehrerin sehe ich als die der Stammesältesten. Ich führe die Kinder, ich leite sie an, nehme Sorgen ernst, tröste und vermittele. Ich nehme die Kinder in ihrer Kompetenz wahr und binde sie in das Klassengeschehen ein. So gut es mir gelingt, bin ich ihnen ein Vorbild. Und Tag für Tag lerne ich dazu. Manchmal ist es so verdammt schwer, weil ihnen die Vorbilder fehlen. Darum brauche ich das Indianerbild.
Bedürfnisorientiert
Liebe Jenni, herzlichen Dank für diesen Einblick in deine beeindruckende Arbeit. Ich werde mir das Indianerbild gleich leihen. Ein bisschen mehr Lagerfeuer ist auch so eine gute Idee für zuhause.v(Musste sofort wieder an dieses Erlebnis denken.) Falls ihr noch Schul-Fragen an Jenni habt, immer gern her damit…

Alles Liebe,

Claudi