SOMMERFERIEN. Vielleicht das beste Wort der Welt. Aufgeladen mit unendlich vielen Gefühlen. Mit unzähligen Bedeutungen. In den Koffer kommen Vorfreude, Neugier, Meereslust und Sonnenhunger. Und jede Menge Bücher. Denn nirgendwo kann ich besser, kann ich mehr, kann ich entspannter und aufmerksamer lesen als im Urlaub…
In meiner Familie gab es das Prinzip des Ferienbuches. Oder besser: Der Ferienbücher, denn eines reichte mitunter nur für zwei Tage. Deswegen hatten wir stets eine eigene pralle Tasche nur mit Büchern für uns vier im vollgestopften Kofferraum unseres VW Passats. Für die endlosen Strandtage und Camping-Abende an Frankreichs Küsten. Für die windigen Oktobertage in Dänemarks Süden. Bis heute halte ich daran fest. Und habe auch für diesen Urlaub eine Ecke unseres überfrachteten Van-Kofferraums für unsere Bücher freigehalten. Et voilà: Hier kommen meine liebsten Sommerschmöker 2021 – und die meiner Kinder:
Eine Geschichte wie eine Naturgewalt.
Habt ihr im vergangenen Jahr auch “Der Gesang der Flusskrebse” gelesen? Seither hat mich kein Buch mehr so umgehauen wie dieses: Chris Whitakers “Von hier bis zum Anfang” erzählt die Geschichte der dreizehnjährigen Duchess und ihrer Familie, die keine glückliche mehr ist, seitdem 30 Jahre zuvor ein tragischer Unfall alles verändert hat.
Ähnlich wie Kya ist auch sie eine Outlaw, die sich am Rand des US-amerikanischen Kleinstadtgefüges von heute bewegt. Sie ist eine Protagonistin, die man so schnell nicht aus Kopf und Herz bekommt: Furchtlos, tapfer und eine Löwenschwester für ihren kleinen Bruder, den sie vor der Welt zu schützen versucht. Einer Welt, die dem American Dream komplett widerläuft. Die Bilder des Buches sind so eindringlich, dass es eigentlich zwingend verfilmt würden müsste – wie übrigens auch “Der Gesang der Flusskrebse”, der 2022 in die (US-)Kinos kommen soll.
Eine späte Entdeckung…
…war für mich “Der Report der Magd”. Auf den Klassiker von Margaret Atwood bin ich durch einen Flohmarkt-Fund gestoßen, der erst lange in meinem Bücherregal verstaubte. Bis ich kürzlich davon las, dass 30 Jahre später (!!) kürzlich die Fortsetzung erschienen sei, ebenso fesselnd und umwälzend wie Band eins. Der damit endlich in meinem Koffer landete – und den ich innerhalb von zwei Tagen verschlang, die Fortsetzung “Die Zeuginnen” gleich hinterher.
Keine leichte Kost, das vielleicht vorweg, denn: Die Geschichte ist in naher Zukunft in dem totalitären (US-)Staat Gilead angesiedelt, in dem Frauen entmüdigt und als Dienerinnen und so genannte Mägde versklavt sind. Diese sollen hochrangigen Regime-Mitgliedern Kinder gebären, denn nach diversen Atom-GAUs sind die meisten Frauen unfruchtbar.
Desfred ist eine solche Magd – und ihr in ihre beschränkte Welt zu folgen, in der sie trotz aller Repressionen einen Weg findet, ihre Würde, ihren Stolz und ihr Überleben zu sichern, ist ebenso faszinierend wie furchterregend. Und: In Band zwei gewinnen die Frauen von Gilead immer mehr an Stärke. Die Männer bleiben – trotz aller Macht – blasse Randfiguren. Insofern ist es auch als sehr feministisches Buch zu lesen. Übrigens lohnt auch die dazugehörige Serie “The Handmaid’s Tale” auf Amazon Prime sehr!
Liegt das Glück in der brandenburgischen Provinz?
Juli Zeh, Autorin diverser großartiger Romane wie “Unterleuten” oder “Spieltrieb”, müsste die Frage wohl mit “Ja” beantworten: Schließlich lebt die schreibfreudige Juristin seit Jahren genau dort auf einem alten Hof, dem backsteingewordenen Traum gestresster Großstädter aus Berlin. Dora, die Erzählerin ihres neuen Buches “Über Menschen”, stößt sich in diesem vermeintlichen Idyll aber erstmal ihre Träume wund.
Im Niemandsland Bracken wird ihre Landlust schnell zu Landfrust: Das Haus eine Bruchbude, der Nachbar ein Nazi, selbst die schwulen Blumenbauern entpuppen sich als AfD-Wähler. Ich mag Provinzromane, und diesen besondern, weil er seine eigenen Klischees aushebelt und auf sehr versöhnliche Weise mit den Idealen spielt, die wir von Stadt und Land, von Falsch und Richtig, von Freunden und Feinden haben. Für mich ist Juli Zeh schon seit Jahren eine der besten, weil umsichtigsten deutschen Schriftstellerinnen.
Dieser eine Sommer.
In dem alles anders wird. Das Leben. Die Träume. Die Pläne. Für Sam, den pubertierenden Erzähler des großartigen Coming-of-Age-Romans “Hard Land” von Benedict Wells, ist es der Sommer 1985. Ich bin eine erster-Satz-Fan. Wenn der mich hat, hat mich das Buch. Hier lautet er: “In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.”
In diesen Worten steckt alles: All das Schöne und das Schreckliche, all die Euphorie und die Melancholie, die das Teen-Sein begleitet. Sam lebt in einem Kaff irgendwo in Missouri und wartet darauf, dass sein Leben beginnt. Das bricht über ihn herein, als er im Provinzkino zu jobben beginnt – neue Freunde findet und neue Gefühle gleich mit. Das alles auf einem herrlichen 80er-Jahre-Tableau entworfen, mit Zitaten aus “Ferris macht blau”und “Breakfast Club” und dazu ein Soundtrack von Billy Idol bis Simple Minds. Im besten Sinne ein nostalgisches Lesevergnügen.
Im Reich der Fantasie ist Lesen etwas Magisches.
Lange vor “Harry Potter” gab es schon mal ein Buch, das mich mit seinem Ideenreichtum, seinen fantastischen Figuren und seiner komplexen Story, die für Kinder und auch wieder nicht war, komplett in seinen Bann geschlagen hat: “Die unendliche Geschichte” von Michael Ende. Jetzt habe ich sie für meinen Neunjährigen zum gemeinsamen Lesen wieder rausgekramt – und bin auch 30 Jahre später wieder absolut hingerissen.
Und er auch: Davon, dass das Buch in zwei verschiedenen Schriftfarben gedruckt ist. Von den magischen Illustrationen zu Beginn jeden Kapitels. Und natürlich von der Geschichte, in der das Nichts das Land Phantásien bedroht und Atréju mit dem Glücksdrachen Fuchur und Bastian Balthasar Bux das Reich der Kindlichen Kaiserin retten müssen. Immer noch ein umwerfend gutes Kinder- und Jugendbuch.
Wenn ein Fussball-Profi vor deiner Haustür steht.
Es war der Sommerurlaub der EM und mein Großer hat sehr viel Zeit vorm Fernseher verbracht. Um ihn überhaupt dazu zu bewegen, selbst die Nase in ein Buch zu stecken, musste es schon etwas mit Fussball sein. Ich habe lange gesucht, weil ich die Erstlesebücher zum Thema immer etwas zu uninspiriert simpel finde.
“Der Wunderstürmer” von Ocke Bandixen ist Familien- und Fussball-Geschichte gleichermaßen und sehr, sehr witzig (sogar für Menschen wie mich, die NICHTS mit diesem Sport am Hut haben). Mit großer Schrift und überschaubaren Kapiteln ist es zudem sehr lesefreundlich für alle, die noch nicht in der Profi-Liga mitmischen. Und das Beste: Bisher gibt es bereits vier Bände über Tim, der beim Zocken im Netz versehentlich einen Fußballstar kauft, der den eher unbedeutenden SC Hegenwald fortan ordentlich aufmischt…
Wo wir das großes Garten-Glück finden.
Irgendwie habe ich es dieses Jahr mit den Klassikern – meiner Sechsjährigen lese ich derzeit “Der geheime Garten” von Frances Hodgson Burnett vor. Und stecke wieder mittendrin in englischen Landschaftsgarten-Träumen. Gerade musste ich noch einmal nachschauen und verwundert den Kopf schütteln: Erstmals erschien das Buch über ein verzogenes Waisenmädchen aus den indischen Kolonien, das auf das englische Landgut ihres Onkels geschickt wird, 1911!
Dennoch ist die Geschichte auf ihre Art zeitlos: Wie Mary durch die Entdeckung eines verwunschenen Gartens vom kleinen Tyrann zu einem wortwörtlich geerdeten Kind wird, das Freunde fürs und Freude am Leben findet, ist wunderschön und ergreifend zu lesen. Außerdem passt es gut in die Tradition, die wir bei uns haben: Nach der Lektüre darf der dazu passende Film geschaut werden – und die Verfilmung aus dem verganenen Jahr ist besonders schön!
Wie es ist, enorm viele Schwestern zu haben.
Noch mehr ländliches Brit-Gefühl hole ich mir mit meinem Dreijährigen bei “Juli Löwenzahn” ab. Der Autor Andreas H. Schmachtl ist ein großer England-Fan – und das sieht man jedem seiner bezaubernd illustrierten Kinderbücher an. Auch “Tilda Apfelkern” gehört dazu – das liebte meine Tochter, als sie kleiner war. Juli ist ein neugieriges kleines Kaninchen, das seine überschaubare Welt entdeckt, Freunde findet, mit seinen enorm vielen großen Schwestern spielt und kleine Abenteuer erlebt. Wir nehmen uns immer ganz viel Zeit für jedes Bild, weil es auf jedem einzelnen so viele hübsche Details zu sehen gibt.
Egal wohin – die Reise wird ein Abenteuer!
Am einzigen Regentag unseres Nordsee-Trips haben wir Claudis neues Reisebuch “Ab ins Abenteuer” rausgeholt. Haben das Mückometer ausgefüllt (Null Stiche – Rekord!, auf Föhr gibt’s irgendwie keine Mücken). Haben neue Wörter gesammelt (Schietbüdel), die Landesflagge abgemalt (Inschrift: “Lewer duad üs Slav!”, “Lieber tot als Sklave!”, wortkarg aber kämpferisch, diese Friesen…) und unsere Lieblingsurlaubsgetränke notiert (Fritz Kola und Grapefruit Tonic mit Thymian, yummie!). Eine richtig schöne Urlaubserinnerung zum immer wieder Durchblättern.
Unsere Sommerferien-Bücher kann ich übrigens auch später immer leicht als Urlaubslektüre identifizieren: Weil Sand aus ihrem Falz rieselt. Weil die Seiten mit salzigen Wasserflecken gesprenkelt sind oder von der Sonne ein wenig verblichen. Und darüber ärgere ich mich ausnahmsweise nicht – sondern freue mich an düsteren Novembertagen an den schönen Erinnerungen, die diese kleinen Macken in mir wecken.
PS: Hier und hier gibt’s noch mehr Buchempfehlungen von Claudi und mir.
PPS: Alle Bücher sind meine persönliche Empfehlung und entspringen keiner Kooperation.
Und welche Bücher packt ihr in euren Koffer?
Alles Liebe,
Bei uns ist es genauso mit der Büchertasche 😊, die muss irgendwie noch rein passen. Ich kann sehr „Sommer auf Solupp“ von Annika Scheffel empfehlen. Ein sehr schönes Buch, auch für Erwachsene. Ich habe es gerade gelesen und bin gespannt, was meine Tocher (9) darüber sagen wird, wenn sie fertig ist. „Im Freibad“ von L. Page ist noch im Gepäck.
Hej liebe Anika, “Im Freibad” ist jedenfalls schon mal ein perfekter Sommerbuch-Titel 🙂 Ich meine, Claudi hatte Sommer auf Solupp auch gelsen und mochte es sehr. Muss ich mir vielleicht mal von ihr leihen 🙂 Viel Spaß beim Schmökern weiterhin. Alles Liebe!
Oh ja, für Ferienbücher ist bei uns eigentlich auch immer eine eigene Tasche nötig…
Deine Auswahl finde ich sehr interessant! Atwood könnte mir auch Spaß machen. Und gut, dass du an “Die unendliche Geschichte” erinnerst, das könnte ich auch mal wieder rausholen.
Bei mir gab es diesen Sommer:
– “Fräulein Nettes kurzer Sommer” von Karin Duve
– den neuesten Brunetti-Krimi von Donna Leon
– “Der Schwimmer” von Szusza Bánk
– “The Anthropocene Reviewed” von John Green – dt. Titel “Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?”
Bei uns gibt es noch folgende Tradition: jedes Kind bekommt ein ganz neues Buch zu Beginn des Urlaubs, das immer eine Überraschung ist, manchmal ein Wunschbuch, aber oft auch etwas ganz Neues, Unbekanntes. Darauf freuen sich unsere Kinder immer sehr! Dieses Jahr gab es den heißersehnten letzten Harry Potter-Band für den Elfjährigen und eine Originalausgabe von “Heidi” (ungekürzt, nicht sprachlich “modernisiert”) für die Achtjährige. Außerdem haben wir Erich Kästner gelesen und das Berlin Anfang des 20. Jhs kennengelernt, wie er es beschreibt.
Hach, ich könnte gleich wieder die Büchertasche packen und losfahren!
Hej Sina, die Tradition des brandneuen Ferienbuches gibt es bei uns auch – dieses Jahr allerdings mal nicht als Überraschung. Mit Fräulein Nette habe ich auch schon häufiger geliebäugelt, weil ich Karen Duve einfach spitze finde, aber ich war mir mit dem Plot bislang unsicher. Aber das ist jetzt ein guter Impuls! Den Schwimmer habe ich schon vor ein paar Jahren gelesen und mochte ihn auch sehr. Meine Top-Titel waren definitiv Hard Land und Von hier bis zuim Anfang – perfekte Urlaubslektüre. Hach ja, ich komm auch mit auf Bücherreise…! 😉 Alles Liebe!
Ja, Fräuein Nette stand zugegebenermaßen auch länger ungelesen bei mir herum und war jetzt eine absolut positive Überraschung und großer Lese-Spaß.
Mich hat es vom Stil her an “Die Vermessung der Welt” von Kehlmann erinnert, wo Gauß und Alexander v. Humboldt plötzlich ganz lebendig und “heutig” werden.
Empfehlung 🙂
O das klingt super – Die Vermessung der Welt habe ich geliebt!! Dann gibt es jetzt kein Entkommen mehr, Fräulein Nette… 😉
Das schönste Ferienbuch leseerlebnis hatte ich dieses Jahr mit „Offene See“-gelesen am Strand im Ferienhaus hat es mich sehr begeistert und passte perfekt in die Bretagne, weil die Sprache schön und poetisch ist, die Geschichte einen mitnimmt, man sein Leben aus der Vogelperspektive betrachte, Ideen mitnimmt und an Leichtigkeit gewinnt.
Andere ausgesuchte Bücher hab ich direkt zugeklappt, weil sie mir zu schnoddrig, zu banal und alltäglich waren.
“Offene See“ hätte ewig dauern können, aber auch der schönste Urlaub geht einmal vorbei.
Hej liebe Mathilda, habe ich noch nie von gehört – und es mir nach deiner Empfehlung und dem Blick auf Plot und weitere Rezensionen gleich bestellt. Klingt großartig! Danke für deinen Tipp! 😊Alles Liebe!
mein liebstes Buch war dies Jahr “Der Salzpfad” von Raynor Winn (und den Folgeband “wilde Stille” gleich dazu) – das beste Buch, was ich dies Jahr gelesen habe!
Es geht um ein Paar, das obdachlos und mit einer heftigen Krankheitsdiagnose den South West Coast Path in England wandert und versucht, wieder auf die Füße zu kommen. Toll geschrieben, inspirierend, ergreifend, spannend und oben drein wahr! Sehr zu empfehlen…
Hej liebe Andrea, o, das klingt auch sehr gut! Ich bin ja so ein Titel-Typ – und beide hören sich sehr vielversprechend an! 🙂 Danke für deinen Tipp. Alles Liebe!