Die meisten Kinder haben heute zwar verstanden, wie man liest. Vielen fällt es allerdings schwer, den Sinn aus einem Text zu entnehmen. Die Ergebnisse von Testungen zum sinnerfassenden Lesen in den Schulen sind oft erschreckend. Sind wir unseren Kindern ein schlechtes Vorbild?

Wieso fällt es so schwer, den Inhalt von Texten zu verstehen?
Als Erwachsene lesen wir meist oberflächlich. Der flüchtige Blick aufs Handy. Das nervöse Scrollen durch die sozialen Medien. Das rasche Überfliegen eines Textes. Viele Menschen lesen heute mehr Wörter pro Tag als früher. Doch die Qualität des Lesens hat sich verändert. Es ist schneller und weniger aufmerksam geworden. Meist dient es der effizienten Bewältigung einer übermächtigen Informationsflut. So ist das Lesen wie Junk Food: Es steht zwar im Handumdrehen auf dem Tisch. Doch es schmeckt nach nichts und ist wenig sättigend.
Maryanne Wolf, Leseforscherin und Professorin an der University of California in Los Angeles, gibt uns ein klares Bild dafür: Sie beschreibt das Lesen als einen mehrschichtigen Prozess. Du kannst dir das wie einen schwimmenden Eisberg vorstellen: Nur die obersten Eisschichten ragen aus dem Wasser – zehn Prozent sind sichtbar. Neunzig Prozent der Eismasse liegt unter der Wasseroberfläche und bleibt verborgen. Überfliegen wir einen Text, kratzen wir nur an seiner Oberfläche. Wir nehmen gerade mal seinen Informationsgehalt auf. Tiefer geht es nicht.
Viele Kinder lesen bloß noch oberflächlich.
Sie erleben im Alltag, wie wir Erwachsene digitale Medien konsumieren und kopieren unser Verhalten. Auch im Schulunterricht lesen die Kinder meist unter Zeitdruck. So erlernen die Kinder eine Art des Lesens, die bloß an der Oberfläche eines Textes kratzt. Das ist so einseitig, wie täglich bloß Burger und Pommes zu essen.
So lernt dein Kind besser lesen…
Wie in Ruhe kochen am Wochenende, mit Muße und Zeit. Viel schöner, als einfach nur Instant Nudeln mit Heißwasser aufzugießen? So kann auch Lesen sein! Unter der Oberfläche eines Textes wartete eine ganze Welt darauf, entdeckt zu werden. Wir können eintauchen und die Gedanken der Autorin weiterdenken. Wir können uns in ihre Fantasie reinversetzen und sie mit unserer verbinden. Wir können ihre Gefühle aufnehmen und diese in uns spüren. Wir können ganz eins werden mit einer Geschichte.
In diesem Moment wird das Lesen zu einer tiefen, umfassenden Erfahrung. Sie berührt den Geist – und das Herz. Auch im Gehirn passiert dann viel mehr. Hirnforscher konnten zeigen: Beim tiefen Lesen arbeiten alle Regionen des Gehirns. Alle Verknüpfungen sind aktiviert – und gleichzeitig bilden sich neue. Genau diese Erfahrung kannst du auch deinem Kind zugänglich machen. Wie? Beim gemeinsamen Lesen. Mit diesen fünf Zutaten:
1. Lesen mit Kindern braucht unsere volle Aufmerksamkeit.
Ein tiefes Leseerlebnis braucht Zeit und Muße. Halte dafür Ausschau nach Zeitfenstern, die wirklich frei sind. Ideal ist ein gemütlicher Ferientag, ein Sonntagmorgen oder -abend. Plane fürs Lesen eine Stunde oder mehr ein. Such einen gemütlichen Ort, wo du mit deinem Kind alleine bist. Übergib die jüngeren Geschwister dem anderen Elternteil. Schalte dein Mobiltelefon aus. So schaffst du Raum für ein ungestörtes Leseerlebnis.
2. Wer Kinder beim Lesen fesseln will, braucht die passende Geschichte
„Was sollen wir bloß lesen?“ Das fragen sich viele Eltern bei der Bücherwahl für das gemeinsame Lesen mit ihrem Kind. Sie achten genau darauf, dass die Lektüre auf das Leseniveau ihres Kindes angepasst ist. Oft treten sie damit unbeabsichtigt auf die Spaßbremse – gerade bei Kindern mit Leseschwierigkeiten.
Denn viele (ältere) Kinder finden Erstlesebücher langweilig. Und bei anspruchsvolleren Geschichten sind die Texte zu schwierig.
Schau bei der Bücherwahl erstmal nur auf den Spaßfaktor. Lass dein Kind eine Geschichte wählen, auf die es so richtig “Bock” hat. Ob die Lektüre genau seinem Leseniveau entspricht, ist zweitrangig. Besuch mit deinem Kind die Bibliothek oder ein größeres Büchergeschäft. Bringt Zeit mit. Fragt nach Geschichten und Themen, die dein Kind interessieren.
Dann setzt ihr euch gemütlich hin und du liest aus jedem Buch ein paar Seiten vor. Kinder merken schnell, ob sie ein Buch mögen oder nicht. Genau das macht die perfekte Lektüre aus: Dein Kind soll sich nicht nur lauwarm für das Buch interessieren; es soll süchtig danach sein.
3. Lesen ist Beziehungspflege
Gemeinsame Lesestunden sind exklusive Mama- oder Papazeiten. Kinder lieben sie mehr als das neueste Computerspiel oder das nächste Lego Friends-Set. Denn die Kinder wollen mit uns in Verbindung sein. Am intensivsten geht das in einer 1-zu-1-Situation – und genau die schaffst du mit einer Lesezeit zu zweit.Gestalte das Leseerlebnis also als exklusive Beziehungszeit – nur du und dein Kind. Bei Kindern mit Leseschwierigkeiten hat die Beziehungsebene eine zusätzliche Funktion: Sie hilft ihnen, die innere Blockade gegen das Lesen abzubauen.
Gerade für Kinder mit Leseschwierigkeiten ist das Lesen anstrengend und mühsam. Oft ist die Lesesituation angespannt und gefühlsgeladen. Denn in der Schule erleben sie immer wieder, dass sie an Lesetexten scheitern. Das belastet und demotiviert – und die Kinder vermeiden das Lesen, wenn immer möglich. Da hilft das vertrauensvolle Umfeld der Eltern-Kind-Beziehung: Hier fühlen sich die Kinder sicher, erste kleine Gehversuche zu wagen.
Sie lesen das, was sie schaffen – ohne an überhöhten Anforderungen zu scheitern. Oder sie verlesen sich und brauchen sich dafür nicht zu schämen. Gerade wenn Kinder eine LRS-Förderung – beispielsweise eine Lerntherapie – besuchen, bietet das gemeinsame Leseabenteuer eine willkommene Abwechslung.
4. Lesen fördert Fantasie.
“Wie fühlt sich Harry?” Bei der gemeinsamen Lektüre der Harry Potter-Bände entstehen bei uns immer wieder Pausen. Wertvolle Pausen. Denn sie helfen den Kindern, tiefer in die Geschichte einzutauchen. Sich mit den Ideen von J.K. Rowling zu verbinden. Die Kinder kommen ins Überlegen und stellen Fragen:
“Ist Voldemort denn ein Mensch? Lebt er – oder ist er tot?” “Wie wäre die Geschichte ausgegangen, wenn Harrys Eltern nicht gestorben wären?”
Sie überlegen sich, wie sich die Charaktere fühlen: “Wie geht es Harry, wenn ihn sein Onkel und seine Tante im Schrank unter der Treppe einsperren?” Du merkst: Die Kinder erleben die Vielschichtigkeit des Lesens. Sie tauchen tief in den Text ein und ergründen das, was unter der Oberfläche liegt. Meist ziehen spannende Geschichten die Kinder automatisch rein. Wenn dein Kind da noch Mühe hat, kannst du es wundervoll unterstützen. Gib ihm einen kleinen “Stupser”. Stell ihm eine Frage und bring damit seine Gedanken in Fahrt: “Wie geht die Geschichte weiter, was denkst du?”
5. Die richtige Lesestrategie.
Unser Ziel ist ein tiefes, umfassendes Leseerlebnis. Fortschritte in der Lesetechnik können ein zusätzlicher Gewinn sein. Doch sie stehen nicht im Vordergrund. Genau darauf richtest du die Lesestrategie aus: Dein Kind soll die Geschichte genießen, darin eintauchen können. Oft heißt dies, dass du einfach vorliest. Gerade in den Momenten, wenn dein Kind müde ist. Oder wenn ihm das Lesen noch schwerfällt. Dann ist Vorlesen genau die richtige Strategie.
Wenn dein Kind kann und will, darf es natürlich auch selber lesen. Ideal sind kleine Teile. Vielleicht liest dein Kind einen Satz oder einen kurzen Abschnitt pro Seite – oder auch nur wenige Wörter. Gerade bei Kindern mit Leseschwierigkeiten kann das ein hilfreicher erster Schritt sein. Halte die Lesestrategie flexibel. Achte darauf, wie es deinem Kind geht. Wenn es ermüdet oder überfordert wird, übernimmst du einfach. Wenn du startest und das Lesen für dein Kind noch schwierig ist, liest du vor. Mit der Zeit kann dein Kind einen kleinen Anteil selbst übernehmen.
Hier noch ein Zusatzimpuls: Eine wunderbare Strategie fürs gemeinsame Lesen ist das Tandem-Vorlesen. Es verbindet das Vorlesen mit einer Leseleistung deines Kindes – ohne Druck und Überforderung. Falls du mehr wissen möchtest, findest du die detaillierte Anleitung dazu in unserem gratis E-Book.
Viel Spaß beim gemeinsamen Lesen!
PS: Wir, Monika und Thomas Abt sind Eltern von vier Kindern und Lerncoaches, spezialisiert auf Rechen-, Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten (Dyskalkulie/ Legasthenie/ LRS). In unserem kostenlosen E-Book zeigen sie dir sieben liebevolle Wege, mit denen sich dein Kind noch heute ins Lesen verliebt – ohne Druck und Zwang.
So ein treffender Artikel! Ich hoffe, viele Eltern lassen sich davon inspirieren.
Neulich habe ich den erschreckenden Satz gelesen, dass es in 30 Jahren keine gedruckten Bücher mehr geben würde… Dem müssen wir entgegenwirken. 💪🏻 Denn was ist schöner, als in einem richtigen Buch zu versinken. Mir tun alle Kinder sehr leid, die aufgrund fehlender Umstände schon heute dieses Glück nicht erfahren dürfen.
Danke für deine Worte. Ja, lasst uns alle ganz viele Bücher kaufen und verschenken!
Alles Liebe,
Claudi
Toll!
Vielen lieben Dank für Ihr Engagement und Wirken! So wichtig.
Herzliche Grüße
Dankeschön. 🙂 Wir fanden das auch so wichtig, deswegen passte der Gasteitrag ganz wunderbar! Alles Liebe, Katia
[…] WASFÜRMICH habe ich diese Woche den spannenden Artikel zum Thema: So lernt dein Kind besser lesen! entdeckt und kann dir ans Herz legen, diesen einmal zu […]
Hmmm… ich habe gerade lange überlegt, ob ich schreiben soll oder nicht. Bei mir hinterlässt der Text ein wenig das Gefühl, es bei lesemuffeligen Kindern einfach nicht gut genug gemacht zu haben, nicht genug Zeit oder Ruhe genommen.
Beim ersten Kind hätte ich mir jetzt auf die Schulter geklopft – toll gemacht. Immer an Büchern und Geschichten interessiert, viel Vorlesen eingefordert, früh selbst gelesen, Typ Leseratte, am liebsten ein Buch pro Tag. Top für die Schule.
Das nächste Kind hat keinen besonderen Wert aufs Vorlesen gelegt, auch nicht auf Hörspiele oder Hörbücher, hat immer bewegte Bilder vorgezogen- trotzdem intensiv und fantasievoll gespielt und das auch jetzt noch. Selbst gelesen werden mit mittlerer Begeisterung Comics oder Graphic Novels. „Weil man da weiß, wie alle(s) aussehen soll.“ Natürlich etwas schwieriger für die Schullaufbahn…
Das dritte findet Vorlesen ganz okay, Geschichten höchstens welche, die weit über den eigenen Lesefähigkeiten liegen, hat aber auch kein wirkliches Interesse, sich selbst durchzukämpfen, zum Vorlesen ausgewählt wurden die Sachbücher. Wie die Streifen in die Zahnpasta kommen – wahrscheinlich könnte ich es noch immer auswendig.
Auch zum Anhören nur Sachthemen.
Das letzte Kind zeigt wieder ein deutlich höheres Leserinteresse, schleppt ständig Geschichten an, möchte sie vorgelesen bekommen, um sie dann jemand anderem „vorzulesen“ oder nachzuerzählen. Mal sehen, wie sich das weiter entwickelt.
Und wenn ich jetzt überlege, was ich gerade geschrieben habe, finde ich eine ganze Vielfalt an Beispielen für euren Punkt 2, sofern man „Geschichten“ durch „Texte“ ersetzt,
Und die Tipps sind ja super, nur wird vielleicht trotzdem nicht aus jedem Kind eines, das begeistert liest um in der Vorstellung in andere Welten einzutauchen.
Hej liebe Andrea, ich glaube, das ist nicht die Intention des Textes. Aber ich kenne sehr gut, was du beschreibst: Obwohl ich die größte Bücherfresserin bin und insbesondere meinen beiden älteren Kindern vorgelesen habe, bis ich angefangen habe zu lallen – ist doch keines von ihnen bislang selbst zur Leseratte geworden. Ich finde das wahnsinnig schade, aber die Kinder müssen eben auch eine Resonanz dazu haben. Insofern gebe ich dir recht: Das Setting ist das eine – die Persönlichkeiten der Kinder das andere. Danke für deine Gedanken, alles Liebe, Katia
[…] Hier ist der Link. […]