Mein Zehnjähriger trägt jetzt Schuhgröße 42. Sein Scheitel ist mittlerweile knapp unter meiner Nase angelangt (und ich bin mit 1,75 nicht eben klein). Kürzlich musste er bei einem Kicker-Turnier Eintritt zahlen, weil ihm niemand glauben wollte, dass er unter 12 ist. Keine Frage: Mein Ältester ist verdammt groß geraten. Aber nicht nur körperlich wächst er derzeit über sich (und mich) hinaus: Auch dem Kindsein entwächst er mehr und mehr – und manchmal packt mich ein Vorgefühl auf das, was kommen wird: Dass mein erstes Kind irgendwann fort sein wird. Und ich Mutter a.D. bin…


Aus den Ferien schickte ich meiner Schwester ein Bild von meinem Großen am Strand. “Ist der erwachsen geworden!!” schrieb sie sofort zurück. Und das, was ich als unbestimmtes Gefühl schon länger mit mir herumgetragen hatte, sprang mich plötzlich mit einer emotionalen Heftigkeit an, die mich selbst überraschte: Ich habe es nicht länger mit einem Kind zu tun, sondern mit einem Jungen auf dem Sprung zum Teenie.

Gerade ist es eine ziemlich emotionale Übergangszeit – für ihn und für mich auch.

So wie er an manchen Tagen den verbalen Mittelfinger reckt und mich am nächsten gar nicht oft genug drücken kann, schwanke ich auch ständig zwischen zwei Polen. Kämpfe unnötige Kämpfe, streite mich über Nonsens mit ihm, im ähnlichen Gefühlswirrwarr wie er. Um mich im nächsten Moment bodenlos schlecht zu fühlen: Wer weiß, wie viel gemeinsame Familienzeit wir noch haben, ich will doch, dass er mir vertraut, dass er immer zu mir kommt, wenn ihn etwas umtreibt, dass er mir nicht abhandenkommt, nicht emotional und nicht als Kind… Puh!

Ich bin noch nicht ganz angekommen in diesem neuen Lebensabschnitt. Weiß häufig nicht genau, wann ich ihn noch an die Hand soll, um ihm den Weg zu zeigen, so wie ich es in den letzten Jahren immer getan habe. Und wann ich ihn freizugeben habe, ihn seine eigenen Erfahrungen machen lassen muss.

Wahrscheinlich neige ich noch viel zu oft dazu, für ihn entscheiden zu wollen – weil mir mit ihm meist die Lässigkeit fehlt, die mit seinen jüngeren Geschwistern viel selbstverständlicher ist.

Die schlechte Helikopter-Angewohnheit von Erstkind-Eltern, fürchte ich. Die natürlich ein Frontalunfall mit seiner Teenie-Aneignung der Welt ist. Ich kann’s ihm nicht verdenken.

Jedenfalls lerne ich gerade ein ganz neues Kind kennen – und mich als Mutter auch. Ein Kind, das gerade mit Nachdruck seinen eigenen Weg sucht (und noch glücklicherweise nicht das Weite…). Ein Kind, mit dem ich plötzlich ganz neue Themen am Wickel habe (vorausgesetzt, es spricht). Ein Kind, das nicht um acht im Bett ist, sondern bis zehn bei mir auf der Terrasse sitzt, mit mir Backgammon zockt und mich fundamentales Fußballwissen lehrt. Und ich als Mutter plötzlich nicht mehr primär als Kümmerin, sondern an guten Tagen als nette Gesellschaft gefragt bin.

So anstrengend es häufig auch gerade ist: Ich hoffe dennoch, dass diese Zeitspanne nicht mit einem Wimpernschlag verfliegt – wie so vieles im Familienleben.

Noch geht mein Großer abends nicht aus, noch kenne ich seinen Radius aus Schule, Bolzplatz und den Häusern seiner engen Freunde. Noch haben wir immer verlässlich unsere gemeinsamen Momente – sind morgens als erste gemeinsam wach, gehen zu zweit schwimmen oder ins Kino. Noch bin ich ihm nicht lästig, peinlich oder zu viel, wie Eltern einem zu viel werden, wenn man endlich ein komplett eigenständiger Mensch sein will.

Es fühlt sich gerade wie ein dankbarer Aufschub an. Und an manchen Tagen kann ich ihm gar nicht oft genug sagen, wie großartig, schlau und mutig er ist, wie lieb ich ihn habe, komm doch mal her, mein Großer, ich muss dich jetzt sofort ganz doll umarmen… Bis wir wegen der Sportschau oder des Umgangstons (seines und meines) aneinandergeraten und uns mit Türenknallen aus der Harmonie verabschieden. Ach, diese Achterbahnfahrt…

“Tschüss, mein Schatz” hieß der Artikel aus der Brigitte Woman, der mich kürzlich überfallartig zum Heulen brachte.

Darin beschreibt Autorin Karina Lübke sehr eindringlich, wie ihr letztes Kind auszieht. Es waren Sätze wie dieser, die mich kurzzeitig die Fassung gekostet haben: “War eine Wohnung ohne ein Kinderzimmer überhaupt noch ein Zuhause?” Und vor allem ihre bange Frage: “Hatte ich ihn gut gemacht, zumindest befriedigend, diesen verrückten Job, für den ich nicht ausgebildet worden war, für den ich nicht bezahlt und nur selten gelobt wurde?”

Denn natürlich ist es genau das, was ich mich mit der nahenden pubertären Abnabelung dauernd und immerzu frage: Habe ich es bislang geschafft, ein starkes Band zwischen mir und meinem Großen zu knüpfen? Eines, das all die Gefühlsstürme, die sicher noch kommen werden, schadlos übersteht? Wird mein Sohn später gern zum gemeinsamen Lieblingseisessen nach Hause kommen, wie es Karina Lübke hofft? Und muss ich vorher auch durch eine “emotionale Kernschmelze” durch, wenn der Abschied naht…?

Klar, mein Jüngster ist gerade vier, das mit dem finalen Kinderauszug dauert vermutlich noch eine Weile.

Aber all diese ersten Male sind mit dem ersten Kind eben immer besonders emotional, weil ich nicht weiß, was auf mich zukommt. Wie ich darauf reagiere, wie mein Kind. Ob es mir den Boden unter den Füßen wegzieht oder ob ich spüre, dass es an der Zeit für einen neuen Lebensabschnitt ist.

Abgesehen davon, dass die Tage im Familienalltag zwar lang, aber die Zeit mit ihnen in der Rückschau doch erstaunlich kurz ist. Ein Wimpernschlag – und ich bin Mutter a.D., wie Karina Lübke so treffend schreibt. Aber noch nicht jetzt. Jetzt haben wir noch Zeit – für Kuscheln, Kino und auch für Krawall. Zeit herausrauszufinden, was wir in dieser neuen Phase voneinander erwarten dürfen, wie nah wir uns sein und was wir gegenseitig voneinander lernen können. Denn nicht nur mein Großer wächst – ich wachse mit ihm. Und jetzt gehen wir gemeinsam schwimmen, mein Großer will Silber machen. Schön, dass er mich noch dabeihaben will.

Kennt ihr diese emotionale Achterbahn in der Prä-Pubertät auch schon?

Alles Liebe,

Katia