Papaya ist der Duft meiner Kindheit. Papaya, Limettensaft und Sonnenstrahlen, durch hohe Fenster. Das ist für mich Geborgenheit. Was für ein Privileg war es, als Kind nicht zu wissen, dass ein Leben nicht nur aus Papaya und Sonne besteht. Niemals hätte ich geahnt, dass meine Tochter eines Tages den Kontakt zu mir abbrechen würde…

Ich bin in Chile geboren, in Mexiko zur Schule gegangen. Lehrerkind. Mal hier mal da. Das Wort Zerrissenheit lernte ich erst als Erwachsene. Spürte, aber vorher was es bedeutet, ohne Heimatgefühl und ohne emotionale Verlässlichkeit aufzuwachsen. Ich habe meine Freunde immer beneidet, die lustige Anekdoten mit alten Freunden teilen. Gemeinsamer Kindergarten. Schulerinnerungen.

Vielleicht war meine Sehnsucht nach einer verlässlichen Liebe deswegen so groß?

Meine Familie bestand aus meinem Vater, meiner Mutter, meinem Bruder und mir. So war unsere Familienaufstellung, in der Reihenfolge. Ich habe es geliebt, wenn meine Mutter gute Laune hatte. Leider hatte sie die selten. Warum sie schlechte Laune hatte, wusste ich als Kind nicht. Habe aber sehr früh gelernt, tunlichst darauf zu achten, dass ich nicht diejenige bin, die ihren letzten Funken Laune löscht. Denn darauf folgte Missachtung, Schweigen und Alleingelassen werdeb. Mein Bruder nannte es später seelische Folter.

Ich erinnere mich gern an unser letztes Haus in Mexiko, ein Kolonialhaus. Mit riesigen Fenstern, durch die immer die Sonne schien. Innerhalb von sechs Jahren sind wir drei Mal in Mexiko umgezogen, aber dort fühlte ich mich am wohlsten. Mein Zimmer war oben, neben dem Elternschlafzimmer und Bruderzimmer. Ich hatte einen kleinen Tisch vor den Fenstern und es waren diese Art Fenster, die sich zweigeteilt nach außen aufmachen ließen. Unsere Hausfee bereitete Köstlichkeiten für uns zu, zum Beispiel Papaya.

Mein kleiner Kassettenrekorder trällerte munter lustig verschiedenste Märchen und mein größter Spaß war es, diese Märchen nachzuspielen.

Am liebsten war ich Rapunzel. Ich bastelte mir Haare aus sämtlichen Kleidungsstücken, die ich finden konnte. Öffnete anschließend dramatisch die Fensterflügel und warf den ganzen Klumpen aus dem Fenster, in der Hoffnung, der Prinz wüsste schon, was jetzt zu tun wäre. Das glucksende Kribbeln im Bauch hatte ein jähes Ende: mein Vater stürmte in mein Zimmer, schimpfte mich wegen des Lärms aus und zwang mich zum Mittagsschlaf. Meine Mutter war tagelang sauer und sagte immer wieder: „Du nervst“.

Ich war zwölf, als wir nach Deutschland kamen. Wir zogen in das beschauliche Fachwerkstädtchen, in dem schon meine Eltern aufgewachsen waren. Hier war es meistens kalt, vor allem die Menschen und die Zeit verstrich einfach. Meine Lieblingsoma suchte mal nach einer Papaya für mich, fand jedoch keine und ich glaube, sie wusste auch gar nicht, wie die überhaupt aussehen. Stattdessen brachte sie mir als Trost eine schwarze Barbie mit. Ich habe sie geliebt. Ich wusste schon damals, dass ich meine ganzen Barbies nebst Zubehör aufheben werde und später einmal alles meiner eigenen Tochter schenken würde. Ich sah uns gemeinsam ganze Barbieparks aufbauen. Ich träumte mich in eine Welt mit meiner Tochter und dachte immer: „Du sollst nie Angst haben, dass du mich nervst und ich dich nicht mehr liebhabe“.

Nach der einen und anderen Liaison mit jungen Männern entschied ich, dass es Zeit war, meine eigene Familie zu gründen.

Meine Pläne waren sehr konkret: drei Kinder, zwei Jungs, ein Mädchen, ein Haus, ein Mann. In der Reihenfolge. Erst wollten mich die Männer nicht, die ich wollte, und ich die nicht, die Interesse hatten. Aber schließlich lernte ich meinen Mann kennen und wir heirateten. Es dauerte nicht lange und mein Sohn wurde geboren. Nie wieder fühlte ich mich so vollkommen und glücklich. In seine wunderschönen braunen Augen war ich von der ersten Sekunde an verliebt.

Heute sind seine Augen grün, so wie meine und ich liebe sie mindestens noch genauso. Wenn in seinen Pupillen kleine helle Punkte blinzeln, dann weiß ich, dass er glücklich ist. So hat er geschaut, als er sein erstes Leberwurstbrot gegessen hat, seine Papaya. Zwei Jahre später, fast auf den Tag genau, kam meine Prinzessin zu Welt.

Die Vorfreude auf sie war unbeschreiblich. Seit dem Tag, an dem der Doktor mir beim 3D Ultraschall sagte, es werde ein Mädchen, fing ich regelmäßig vor Freude an zu weinen. Um 23:23 Uhr erblickte sie das Licht der Welt und da hielt ich sie nun in meinen Armen: dieses kleine Bündel Glück mit dem Duft von Schokolade. Ich war vielleicht die stolzeste Mutter der Welt.

Während ich meine Kinder jeden Tag mehr liebte, entliebte ich mich täglich ein bisschen mehr von meinem Mann.

Anfangs kämpfte ich gegen das Gefühl. Ich kämpfte gegen mich selbst, war verzweifelt und wütend. So viele Warums lagen in der Luft, aber mein Mann konnte nicht antworten, weil er die Fragen nicht wirklich kannte. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob Trennung richtig ist. Jahre voller Traurigkeit, Depressionen, Arztbesuchen, Psychotherapien. Ich ahnte: Nach der Trennung würde mein Mann mein ärgster Feind werden – und meine Kinder müssten zwangsläufig mit in unseren Krieg ziehen.

Als ich aussprach, dass es vorbei war, war mein Sohn vierzehn, meine Tochter zwölf. ER schmiss mich raus, die Kinder blieben bei ihm. Er behauptete, dass ich die Kinder nie gewollt hätte. Noch heute fühle ich diese unsägliche Ohnmacht und Verzweiflung. Ich zog in eine kleine Stadtwohnung, in der ich zu Kräften kam. Meine Kinder sollten mich nicht nach festen Plänen besuchen kommen, sie sollten immer das Gefühl haben, jederzeit willkommen zu sein. Doch ich hatte seine Wut noch unterschätzt, angefeuert durch den Hass seiner Eltern.

Meine Kinder hatten keine Chance, Toleranz und Loyalität zu entwickeln.

Wenn meine kleine Zuckerpuppe mich besuchte, hatten wir wunderschöne Zeiten und ich beobachtete anfangs freudig, wie aus dem kleinen Sonnenschein mit Zopf eine wilde Zora wurde. Ein Pubertier. Eines Tages zog mein Ex den letzten Dolch und verklagte mich auf Unterhalt. Mein finanzieller Ruin. Ich redete mit meiner siebzehnjährigen Tochter darüber – im Nachhinein ein großer Fehler. Damit brachte ich sie in ein großes Loyalitätsdilemma, was nicht meine Absicht war.

Ich hatte in meiner Verzweiflung gehofft, dass sie auf ihren Vater einwirken und ihn dazu bringen könnte, von der Klage abzusehen. Ihre Hilflosigkeit habe ich nicht erkannt, ich interpretierte das damals als Ablehnung gegen mich. Wenn ich geahnt hätte, dass dieser Tag der letzte Tag sein würde, an dem ich sie sehen würde, ich würde heute so vieles anders machen.

Sie brach den Kontakt zu mir ab. Ging nicht mehr ans Telefon.

Blockierte mich in allen sozialen Netzwerken. Sechs Jahre sind bereits vergangen, die wir nie wieder zurückbekommen. Ihren achtzehnten Geburtstag, ihr Abitur, ihren bestandenen Führerschein – alles feierte sie ohne mich. Ich war nur in Gedanken dabei. Viele Jahre habe ich mir gewünscht, ich könnte ihr erklären, dass ich sie liebe, selbst wenn wir nicht einer Meinung sind. Ich fand die Vorstellung schrecklich, dass sie ihre Mutter vermissen könnte, so wie ich meine, wenn die mich wochenlang mit Missachtung strafte. Mich ignorierte, als sei ich Luft.

Mein Bruder hatte als erwachsener Familienvater den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen, auch ich habe ihn nicht wiedergesehen. Die Trauer meiner Eltern darüber lag auf meinen Schultern und ich schwor mir damals, dass mir sowas niemals passieren würde. Für keinen Preis der Welt wollte ich es zulassen, keinen Kontakt zu meinen eigenen Kindern mehr zu haben.

Jetzt stehe ich hier, genieße den innigen Kontakt zu meinem Sohn und vermisse meine Tochter.

Ich vermisse sie wie verrückt und wenn ich an ihr zuckersüßes Gesicht denke, zerreißt es mir das Herz. Dennoch weiß ich, sie lebt ihr Leben und dieses sehr erfolgreich. Manchmal erzählt mir mein Sohn von ihr, obwohl ihr das nicht recht wäre. Ich frage mich, ob ich die einzige bin, der es so geht. Oder ob es Mütter und Väter mit ähnlichen Geschichten gibt. Nur sie können verstehen, wie einsam man sein kann. Ich wünschte mir, wir könnten uns alle die Hand reichen, festzudrücken und uns Hoffnung machen, dass das Leben vielleicht irgendwann wieder nach Papaya schmeckt.

Foto: Shutterstock

 

 

Angela