Der Tüll tuschelt. Ganz sicher. Er hält mich am Oberarm fest, kratzt kitzelnd meinen Unterarm, bis ich ihn endlich beachte und sanft über ihn streiche und Lage für Lage lufte. Die Künstlerin erzählt uns gerade von ihrer Arbeit, aber ihre glänzenden Stoffe, funkelnden Pailletten und raffinierten Roben erzählen noch viel mehr. Wie ist das wohl, wenn man Designerin für Märchenkleider ist? Ein Atelierbesuch…

Wir sind einen schmalen Bürgersteig in Arras, in Nordfrankreich, entlanggegangen. Zwei weitere JournalistInnen und ich, sind ein paar Steinstufen hochgestiegen, haben hochgesehen zum baumelnden Metallschild über uns. “Les dentelles du Presbytére” steht über der flaschengrünen Tür. Dann macht sie auf: Dunkle Haare umrahmen ihr Gesicht, sie lächelt leise. Sylvie Facon näht in ihrem Atelier in der Rue du Presbytère Sainte Croix Roben – für Kundinnen in der ganzen Welt – und für sich.

Es duftet nach Parfum, Blumen und nach, ja, nach übermütigem Tüll. Der Dielenboden knarzt unter den Füßen. Meine Augen weiten sich beim Anblick der Roben, die die Schneiderpuppen tragen. Ein Kleid aus Büchern (!), eins aus Geige (!), eins mit blauen Häusern aus Arras(!!!) Ein paar Schritte weiter bricht die Veranda vor dem großen Fenster im Atelier das grelle Sonnenlicht, mildert es milchfarben ab. Lässt Pailletten, Seide und Garnrollen sanft leuchten. Überall Stoffe und Strass. Wie Sylvie wohnt, was sie macht und näht, scheint nicht von dieser Welt.

Die meisten ihrer Kundinnen kommen aus Amerika, erzählt uns die Künstlerin.

Ich habe sie so getauft, sie nennt sich so nicht. Sie mache keine Kunst, erklärt sie mir. Sie nähe bloß. Handwerk sei das. Aber sie liebe, was sie tue. So sehr, dass sie vom ersten Strich der Skizze bis zum letzten Stich der Nadel alles allein macht. Bis zu 300 Stunden sitzt sie an einem Kleid. Sie will keine Assistenten, sie liebt es genau so. Manche Kleider näht sie nur für sich. Sie sind absolut unverkäuflich.

Sylvie Facon habe keine besonders schöne Kindheit gehabt, schreibt das französische Magazin Le Luxe Authentique in ihrem Portrait. Als jüngstes von vier Geschwistern geboren, hatte die Familie nicht viel Geld. Ihr Vater, ein Polizist war selten da, die Mutter häufig mit sich beschäftigt. Die kleine Sylvie flüchtete in den Familiengarten, zeichnete stundenlang Pflanzen und Kleider aus dem Lexikon ab. Sylvie zog mit 17 zu einer Freundin, träumte davon Philosophie oder Kunst zu studieren, scheiterte aber am Geld. Sie begann zu arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und gab nebenbei Kurse in Seidenmalerei an der französischen Volkshochschule.

Eine Weile später fängt sie doch an zu studieren, für Bildende Kunst hat sie sich entschieden. Nach ihrem Diplom stellt sie ein Frauenwohnheim in Arras ein, um Kreativkurse zu geben. Sie studiert noch einmal und macht ihr Diplom in Soziale Arbeit. Sie arbeitet weiter für die Frauen, näht erste Kostüme für den Karneval. Sie möchte sie für eine Weile rausholen aus ihrem Alltag – und sich selbst vielleicht auch. Immer aufwendiger werden ihre Arbeiten und Sylvie näht immer leidenschaftlicher, bis ihr schließlich die Assistentin eines Modedesigners anbietet, sie in Schneiderei auszubilden.

Bis sie sich traut, sich mit ihrer Leidenschaft selbstständig zu machen, arbeitete Sylvie Facon 30 Jahre in der Sozialarbeit.

Ihre Aufträge bekommt sie heute durch Kontakte. Museen fragen sie an und sie organisiert Modenschauen. Die meisten ihrer privaten Kundinnen kommen aus Amerika und lassen sich bei Sylvie ihr Traumbrautkleid schneidern. Gern in bunt und immer sehr besonders. Für eine Kundin fertigte sie ein kurzes Kleid aus einem Buch. Der Papierrock raschelt, als Sylvie mit der Hand durch die hunderten Seiten fährt. Kostenpunkt: 4700 Euro.

Sylvie lächelt die meiste Zeit. Freundlich, sanft, beinahe ein wenig schüchtern. “Ja, sie sei sehr zurückhaltend”, gibt sie zu. “Meine Kleider sind meine Möglichkeit zu erzählen. Über meine Lieblingsthemen Blumen, die Stadt Arras und Bücher.” Die Stadt Arras schenkt ihr regelmäßig welche für ihre Kleider.


Eine Frage habe ich noch, bevor ich gehe. Nämlich, ob sie die Bücher, die sie verarbeitet, vorher alle lese? Sylvie schüttelt den Kopf. Non, lesen tue sie sie nicht. Sie findet das Buch an sich, sein Papier und den Umschlag ohnehin spannender als den Inhalt. Und sie habe überhaupt keine Zeit zum Lesen. Der nächste Kleidertraum warte. Viele Meter tuschelnder Tüll, 300 Stunden Arbeit, Stich für Stich für Stich.

PS. Wer mag, kann sich für eine Weile in Sylvies Traumwelt einbuchen. Unter dem Dach vermietet sie zwei kleine Zimmer. Infos gibt’s hier oder hier.

PPS: Und das hübsche, nordfranzösische Arras ist auch eine Reise wert. Dazu bald mehr.

Alles Liebe,

Claudi