2020 ist ein Jahr, das sich in keine Schublade pressen lässt. Es ist ein einzigartiges, verheerendes, umwälzendes, beängstigendes Jahr. Eines, in dem man sich am Abgrund glaubt – und dann genau dort tanzt. Es ist ein verdammt anstrengendes Jahr, das in gegensätzlichen Extremen wirkt: Selten war ich so oft so wütend. Und selten plötzlich so dankbar über vermeintlich alltägliche Dinge wie Gesellschaft, Gesundheit, gemeinsam erlebtes Glück…


2020 ist auch ein ziemlich nachdenkliches Jahr. Dauernd pflanzt es Gedanken in mein Hirn, die ich sonst nicht denke. Manchmal sind es bange Fragen wie: Können meine Kinder in dieser seltsamen Welt auf Dauer gut leben? Was kann ich am Zustand dieser Welt ändern? Manchmal fatalistische wie: Naja, immerhin hat Corona Homeoffice selbstverständlich gemacht.

Aber am häufigsten habe ich darüber gegrübelt, welche Menschen mir wirklich wichtig sind. Als ich im Frühjahr plötzlich niemanden außer meiner Familie mehr um mich haben durfte, niemanden sehen, einladen, besuchen durfte, schien mir das Leben plötzlich ziemlich trübe. Die Abwesenheit von Freunden, Bekannten, Nachbarn, das Verschwinden von etwas vermeintlich Selbstverständlichem wie Geselligkeit nach Lust und Laune, hat mich ziemlich kalt erwischt. Und jetzt ist meine, ist unser aller Welt wieder an diesem Punkt angekommen: maximal zehn Personen aus zwei Haushalten – Tendenz abnehmend. Dass diese Restriktionen zum Schutz aller notwendig sind, verstehe ich. Aber fühlen tue ich etwas ganz anderes: nämlich Angst, Frust, Trauer. Wegen der Lieblingsmenschen, die ich schon wieder nicht treffen und umarmen darf.

Denn was zählt im Leben wirklich?

Für mich schon immer das Gefühl, es mit all seinen Facetten teilen zu können – und es dadurch schöner, bunter, lebenswerter zu machen. Was wäre der erste Kuss ohne die beste Freundin gewesen, mit der man diesen wunderbaren Wendepunkt immer und immer wieder durchgekaut hätte? Was die versemmelte Prüfung, der fieseste Absturz, der schlimmste Liebeskummer ohne Vertraute, an deren Schulter man sich hemmungslos ausweinen durfte?

Mit meinen Freunden habe ich die schönsten und die schrecklichsten Dinge erlebt und verarbeitet. Sie sind neben meiner Familie und dem Wunsch nach bleibender Gesundheit für mich das Wichtigste auf der Welt. Viele, die ich meine Freunde nenne, kenne ich schon mein halbes Leben lang. Manche von Anfang an – das sind mittlerweile über 40 Jahre. Es ist ein Geschenk. Eine Vertrautheit, die so tief wurzelt und damit allen Lebensstürmen trotzt. Egal, wie unterschiedlich wir mittlerweile sind. Meine älteste Freundin und ich können uns ein halbes Jahr nicht sehen und sprechen – und knüpfen dennoch nahtlos wieder an unser gemeinsames Band an. 

Kürzlich fiel mir das auch bei meinen Kindern auf: Wir haben hier bei uns im Dorf früh eine Krabbel- und Spielgruppe etabliert – eigentlich mehr für uns Mütter, weil wir uns in der damals noch neuen Lebensphase fanden und spontan mochten. Fünf Frauen und im Laufe der Zeit eine ganze Bande von Kindern, die miteinander aufgewachsen ist. Manche sind immer noch dicke Buddies, andere haben sich auseinandergelebt. Aber wenn wir mitunter alle zusammenkommen wie kürzlich, als wir das noch durften, sind die Kinder sofort wieder miteinander verbunden. Selbst wenn sie auf dem Schulhof ansonsten kein Wort miteinander wechseln. Es ist wie ein Schalter, der umgelegt wird: in dieser isolierten Gruppe kennen und mögen sie einander von Babyzeiten an. Ich wünsche mir sehr, dass meine Kinder diese Verbundenheit, dieses Gefühl mit in ihr weiteres Leben tragen.

Hier habe ich meine engsten späten Lieblingsmenschen gefunden.

Wir Mütter, ursprünglich als Interessengemeinschaft gestartet, sind mittlerweile ein Verbund von Freundinnen. Mehr noch als meine frühen Kindergarten- oder Schulfreundschaften sind das solche, die zwar keine lange Historie vorweisen, dafür aber auf eine gute Weise alltagskompatibel sind. Diese Freundschaften leben von dauernder Nähe, sind ein wenig handfester. Wir sehen uns beim Bringen und Holen in Kita und Schule, wenn die Kinder nachmittags verabredet sind oder zufällig beim Einkaufen. Wir nutzen unseren gemeinsamen WhatApp-Kanal für Banales und Besonderes. Wir treffen uns regelmäßig abends zum Kochen, Essen gehen, Zeit verbringen. In den vergangenen Wochen war jedes Beisammensein schon gefärbt von dem Gefühl, es könnte bald wieder das letzte Mal sein. Das hat es noch intensiver gemacht.

Umso größer scheint jetzt die Leerstelle, nun, da diese Nähe wieder verboten ist. Geburtstage, die wir nicht miteinander feiern dürfen, kein traditionelles Fondue-Essen und vermutlich auch kein gemeinsamer Weihnachtsbaum-Kauf. Wir haben beschlossen, uns dennoch zu sehen – per Zoom. Das haben wir im ersten Lockdown schon probiert. Eine Dreiviertelstunde vorm Laptop, jede ein Glas Wein vor sich und komprimierte Gespräche. Nicht das Gleiche, aber besser als nichts. Und so lange Schule und Kita noch offen sind, hat man ja noch den kurzen Parkplatz-Schnack mit Sicherheitsabstand.

Mit meinen alten Freunden verabrede ich mich jetzt wieder ganz oldschool zum Telefonieren. Manchmal fühle ich mich dabei in meine Teenie-Zeiten zurückversetzt, wo ich auf meinem eigenen Apparat stundenlang diesen Satz und jenen Blick meines aktuellen Schwarms durchgenudelt habe. Nur, dass es jetzt eben um Kinder, Ehemänner und drohende Nervenzusammenbrüche ob der nächsten Homeschooling-Option geht. Wenn ich mir dazu ein paar Kerzen anmache und nette Musik, fühlt es sich gar nicht so sehr nach pappigem Ersatz an.

Mit einer anderen Freundin maile ich mir alle zwei, drei Tage. Kurze Zusammenfassungen unseres Alltags, gespickt mit ein paar Fotos der jeweiligen Aktivitäten. Ich mag sogar WhatsApp-Sprachnachrichten gern: unkomplizierte Statements, die signalisieren: „Ich denk gerade an Dich!“

Das sind natürlich alles nur zeitlich begrenzte Krücken. Und manchmal wird mir flau im Magen, wenn ich daran denke, wie lang dieser Winter sein wird, der gerade erst begonnen hat. Und wie lange es möglicherweise dauern wird, bis wir uns wieder ganz selbstverständlich und nach Lust und Laune mit unseren Lieblingsmenschen zusammenfinden dürfen. Aber dann erinnere ich mich daran, wie ewig viele meiner Freundschaften schon halten, was sie schon aushalten mussten. Und dann denke ich: Corona schaffen wir auch noch! Aber ich habe mir fest vorgenommen, dieses Jahr ganz viele ganz persönliche Weihnachtskarten zu schreiben.

Und wie haltet ihr an Freundschaften in diesen seltsamen Zeiten fest?

Nachdenkliche Grüße,

Anna