Kürzlich stolperte ich bei der ehemaligen “Wir sind Helden”-Frontfrau Judith Holofernes über diesen Begriff: Pathologische Tapferkeit. Und fühlte mich sofort verstanden. Er beschreibt ziemlich genau, was dieser emotionale Cocktail aus Pflichtgefühl, Erwartungserfüllung, Höflichkeit und Hingabe gegenüber einer Million zu erledigender Dinge ist, die die Grenzen von Eltern und insbesondere von Müttern viel zu oft strapazieren…

 

Die, komme-was-wolle, die Fahne hochhalten, “Ach, es geht schon…” durch die zusammengebissenen Zähne murmeln, während sie am Rande der Erschöpfung durch die angebliche Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben navigieren, das irgendwie immer kurz davor scheint, zu implodieren.

Mütter am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Die doch immer weitermachen, tapfer, tatkräftig, todmüde, weil es nicht anders geht, weil der gesellschaftliche Konsens ist, nicht zu jammern, sondern gefälligst zu machen, da zu sein und dabei gern noch den Anschein zu erwecken, es sei doch alles ein Klacks, allerhöchstens eine Phase und unsere Großmütter hätten noch so viel mehr gerockt, jetzt stell dich mal nicht so an. Und wenn das alles wirklich so furchtbar ist, dann hättest du eben keine Kinder bekommen sollen oder zumindest nicht gleich so viele.

Auf den Job bezogen heißt dieses Phänomen “Burn-on”, eine Art chronische Erschöpfung, die auch im Zusammenhang mit Anforderungen, für die man eigentlich brennt, auftritt. Der Psychiater Bert te Wildt erklärte dazu kürzlich im Interview mit GEO:

“Mit dem Begriff “Burn-on” versuchen mein Kollege Timo Schiele und ich eine Variante des Ausgebranntseins zu beschreiben, die nicht so fulminant durch einen Zusammenbruch auffällt, sondern bei der die Erschöpfung chronisch verläuft und Betroffene gerade noch in vielen Bereichen “funktionieren”. Sie bewegen sich dauerhaft an der Scheidelinie von Durchhalten und Zusammenbruch und verharren auf einer Art Vorstufe zum Burn-out.”

Ich finde, das illustriert ebenfalls sehr präzise unser Elterndasein: Wir lieben, was wir tun, wir lieben unsere Kinder, unser Familienleben, unseren Job – und doch sind wir oft latent damit überfordert, all diese Herzensdinge unter einen Hut zu bekommen.

Denn wie häufig kann man über sich hinauswachsen, wie oft das Unmögliche möglich machen, pathologisch tapfer sein, obwohl man sich viel lieber verkriechen würde, um mindestens drei Monate zu schlafen und keine Wäsche-Hausaufgaben-To-Do-Listen-Arzttermine-Einkaufen-Infekttage zu bewältigen? Erstaunlicherweise ziemlich häufig. Aber eben nicht immer.

Kürzlich kam so viel zusammen, es war dieser letzte Tropfen, der eher einem Wasserfall glich, dass es mir den Boden unter den Füßen wegzog. Und ich von einem Tag auf den anderen plötzlich keine Kraft mehr hatte, nicht mehr tapfer sein wollte oder überhaupt konnte. Ich war wie angeschossen. Allein der Gedanke an die alltäglichen Tätigkeiten überforderten mich komplett. Ich wollte am liebsten weit weg sein, allein, meine Ruhe, ich wollte keine feuchten Küsse, keine Fragen, keine Aufgaben, keinen Trost.

Ich wollte verschnaufen von diesem Hamsterrad, das niemals endet, zumindest nicht, solange die Kinder klein und bedürftig und zuhause sind – und plötzlich noch andere meinen Beistand brauchen.

Ich wollte nicht mehr die Bedürfnise anderer erfüllen in einem nie versiegenden Strom aus Anforderungen, Erwartungen, Pflichtgefühl, die mich auslaugen, auch wenn Liebe der Motor ist. Judith Holofernes hat mit dem Problem der pathologischen Tapferkeit damals ihren Rücktritt von dem Popstar, der sie lange war, verkündet. Sie wollte jemand anderes sein unter gleichem Namen (hier geht’s zu ihrem Post).

Ich kann meinen Job nicht kündigen, nicht den als Mutter, nicht den als Partnerin, Tochter, Schwester, Freundin und auch nicht das Schreiben – dafür sind all das viel zu große Herzensdinge. Ein Rücktritt davon käme einer Amputation gleich. Aber vielleicht braucht es neue Grenzen, für mich und für die anderem, braucht es noch mehr Inseln im Alltag zum Verschnaufen, braucht es weniger Kümmern und Kontrolle und noch viel mehr geschehen lassen ohne mein Zutun.

Es braucht weniger To-dos und mehr Laisser-faire – in all meinen Berufungen. Damit ich weiter brennen kann, aber auf kleiner Flamme – und nicht irgendwann verlösche.

Ich benötigte ein Wochenende, um mich wieder zu berappeln. Um das Gefühl zu haben, nicht nur allen Anforderungen, sondern vor allem mir selbst wieder besser gerecht werden zu können. Ich weiß doch eigentlich, wie das geht: Neinsagen. Stopsagen. Innehalten, mich fragen: Kann ich das gerade leisten? Will ich das? Kann das nicht auch jemand anderes übernehmen? Und spätestens, wenn ich merke, dass ich wieder mal mit zusammengebissenen Zähnen “Ach, es geht schon…” murmle, die Notbremse ziehen. Pathologisch tapfer mag ich nicht mehr sein.

Kennt ihr dieses Gefühl auch?

PS: Judith Holofernes hat jüngst ein Buch darüber geschrieben – über die Krisen, über Träume – ihre eigenen und die von anderen – und über wichtige Entscheidungen: “Die Träume anderer Leute” klingt genau nach der Lektüre, die ich gerade gut gebrauchen kann.

Alles Liebe, passt gut auf euch auf,

Katia