Wir alle wollen gerade raus. Aus stickigen, zu kleinen Wohnungen, die über die Pandemie noch geschrumpft scheinen. Endlich raus an die frische Luft, in den Park, an die Elbe, die Spree. Raus aus dem Gefühl der Enge, das sich im zigten Lockdown zwischen Häuserwänden und Menschenmassen einstellt, die auf den gleichen Spazierrouten wie wir nach Freiheit suchen. Und immer mehr wollen ganz raus aus ihrem urbanen Leben. Wollen Stadt gegen Land tauschen, Weite nicht nur an Ausflugstagen atmen. Ein Häuschen im Grünen, ein Garten, so geht doch Glück. Oder…?

Das dachte ich auch, als ich mit Mann und Baby vor acht Jahren Hamburg St. Pauli für ein Dorf am Stadtrand verließ. Weil ich mich Hals über Kopf verknallt hatte: In eine wunderschöne Wohnung mit einem runden Erker, davor ein von Sonnenblumen überwucherter Garten. Weil ich mich in die Aussicht verguckt hatte, aus dem Fenster auf die Elbe zu schauen. Und in die Vorstellung, hier ein entschleunigteres, erfüllteres, besseres Leben zu führen. Mit Holzclogs an den Füßen und frisch gebackenem Apfelkuchen ein Picknick auf der Streuobstwiese machen. Das personifizierte Landlust-Abo.

Auf’s Hochgefühl folgte Ernüchterung.

Ziemlich bald schon: Wir waren Anfang Oktober umgezogen, es war ein sonniger Herbst. Über unseren Köpfen formierten sich Gänse zu langen V-Schwärmen, während die letzten Kletterrosen verblühten. Und dann kam der November, der verdammt kalt und grau war. Wo flache Landschaften statt Häuserschluchten sind, ist der Wind irgendwie fieser. Das bekam ich zu spüren, während ich auf einsamen Marschwegen den Kinderwagen ziellos durch die Gegend schob. Stundenlang. Und mich nach einem Heißgetränk to go sehnte. Nach Gesellschaft sowieso.

Ein paar Wochen später war die Landlust und Landfrust umgeschlagen: Zwölf Stunden am Tag allein mit einem Säugling zuhause, während der Mann im Büro oder als Pendler im Auto festsaß. In einem Heim, das in den Wintermonaten nur dann heimelig wurde, wenn Kamin und Holzofen nonstop befeuert wurden. Kein eigenes Auto, der Bus fährt nur einmal in der Stunde – und alle alten Freunde sehr weit weg. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Aber auch das kann Landleben sein: abweisend, trist, einsam.

Wer dem Trend folgt, folgt erstmal auch einem Idyll.

Bereits 2019 – da gab’s Pandemien nur in Hollywood-Blockbustern – kam eine Emnid-Studie zu dem Ergebnis, das 60 Prozent der unter 40-Jährigen lieber auf dem Land als in der Stadt wohnen würden. Nach einem Jahr Corona, in dem Städte plötzlich um die Attraktivität ihrer unzähligen Angebote beraubt sind, hat sich der Trend noch verschärft. Explodiert die Nachfrage nach Häusern und Grundstücken in den Speckgürteln der Städte. Wollen alle lieber Kuhmist statt Feinstaub in der Nase,  gärtnern statt shoppen.

Ein befreundeter Landwirt, der hier ums Eck einen wunderschönen Bio-Hof mit Café und Ferienwohnungen betreibt, erzählte mir kürzlich folgendes: Immer zu Jahresbeginn bekäme er zahlreiche Anfragen von gestressten Großstadt-Frauen, die ihn um einen Job geradezu anflehen. Landlust ist auch immer auch ein Synonym für Seelentrost.

Aber Dorf und Provinz sind nicht immer nur instagrammable, im Gegenteil.

Es gibt mehr gesichtslose Häuserreihen an Durchfahrtsstraßen als geschmackvoll renovierte Bauernhäuser. Wer weit draußen lebt, hat weite Wege, ohne Auto geht es nicht. Ohne Planung auch nicht: Meine Einkaufslisten sind Romane, hab ich die Sahne vergessen, kostet mich das eine 45-minütige Extrarunde. Lieferdienste nehmen die Anfahrt nur an, wenn wir für mindestens 40 Euro Pizza bestellen – die den Namen nicht verdient hat.

Es gibt hier keine fancy Restaurants, kein Yogastudio, keine Bars. Stattdessen die Freiwillige Feuerwehr, den Dorfgasthof mit Schnitzel-Pommes-Menü und viele Fahnenmasten. Ich würde immer wieder hier rausziehen.

Weil die Gemeinschaft großartig ist.

Vielleicht hatten wir einfach verdammt viel Glück. Denn ich hab schnell gemerkt: Ohne Gleichgesinnte geht es nicht. Um irgendwo wirklich Fuß zu fassen, braucht es eine Verbindung zu Menschen, die vor Ort sind. Braucht es Verbündete im Alltag, nicht nur an den Wochenenden, wenn die alten Freunde das neue Leben bestaunen.

Erst lief mir Claudi beim Kinderturnen in die Arme. Ein paar Wochen später stand S. vor der Tür, wie ich frisch aus Hamburg rausgezogen, auf der Suche nach Kontakten. Bald waren wir noch drei Mütter mehr. Und so viel mehr als eine Notgemeinschaft. Wir wurden Freundinnen, ziemlich schnell sogar. Und plötzlich machte alles wieder Sinn: der Umzug, das Abenteuer, das Ideal vom Landleben.

Denn: Hier draußen ist es wundervoll, so viel mehr, als ich das in der Stadt jemals empfunden habe. Der Anblick der ersten Störche, die ab Februar in unser Dorf zurückkehren. Ich liebe die Stille, die an Sommerabenden nur vom Froschkonzert durchbrochen wird. Die Deiche voller Wiesenblumen. Den Sonnenuntergang am Elbstrand. Es macht mich glücklich, dass meine Kinder ab April mehr im Garten als in ihren Zimmern wohnen.

Aber für mich braucht es jemanden, mit dem man all da Schöne teilen kann, noch besser machen kann. Und damit meine ich nicht allein die eigene Familie. Für den liebevollen Blick auf Heimat braucht es oft auch Impulse von außen. Hätten wir hier nicht so schnell Anschluss gefunden – ich weiß nicht, ob wir geblieben wären. Denn wir haben uns lange eine Hintertür offen gehalten: Unsere Stadtwohnung haben wir erst ein Jahr nach unserem Rauszug final gekündigt.

Seitdem habe ich nicht mehr das Gefühl, hier etwas zu vermissen.

Alles, was an Infrastruktur fehlt, schaffen wir uns nach Möglichkeit selbst: Statt in der Bar treffen wir uns reihum auf unseren Terrassen zum Wein. Wir sind unser eigenes Café, unser eigenes Restaurant und anstatt ins Fitnessstudio gehen wir gemeinsam im Wäldchen joggen.

Ich weiß allerdings nicht, ob ich diesen Schritt auch ohne Kinder gemacht hätte. Landlust hat auch oft etwas mit Alter und Lebenssituation zu tunin meinen wilden Zwanzigern wäre das hier für mich die Provinzhölle gewesen. Doch seitdem Corona unser aller Leben beschränkt, uns all der Dinge beraubt, die urbanes Leben so verheißungsvoll machen, könnte sich auch das verändern. Immerhin hat es auch die Arbeitswelt radikal verkehrt: Ich genieße es sehr, dass mein Mann und ich jetzt beide selbstverständlich im Homeoffice arbeiten können. Denn Pendeln ist das Gegenteil von Glück auf dem Land.

Ich jedenfalls habe unsere Entscheidung niemals bereut. Jetzt haben wir ein eigenes Haus im Grünen. Einen Garten. So geht Glück für mich.

Und ihr: Seid ihr überzeugte Stadtgewächse oder zieht es euch auch raus aufs Land? Ich bin gespannt!

PS. Hier schreibt Claudi übers Landleben.

Alles Liebe,

Katia