„Wissen Sie, am Montag wird meine Tochter fünf. Da muss ich wieder zuhause sein!“ Ich kann die Träne, die nass meine Wange hinunterrollte, noch spüren. Wie ich auch die Stimme des neurologischen Oberarztes im Ohr habe, der mir leise, aber bestimmt antwortete: „Es geht jetzt nicht darum, dass Sie pünktlich zu diesem fünften Geburtstag wieder zuhause sind. Es geht um die vielen anderen Geburtstage, die sie noch erleben wollen..”
Hatte ich wenige Stunden zuvor noch mitten in den Vorbereitungen für den anstehenden Kindergeburtstag gesteckt, lag ich im nächsten Moment mit einer Hirnblutung auf der Stroke Unit eines Münchner Universitätsklinikums. Meine rechte Körperhälfte war sensorisch lahmgelegt, ich spürte nichts, vom Scheitel bis in die Zehen.
Dieser Tag im Januar 2016 teilt mein Leben bis heute in ein Vorher und ein Nachher. Ich war gerade mal 34, Mutter drei kleiner Kinder und Karies im Milchzahngebiss oder die Frage, ob sich unsere Kinder langfristig ein Zimmer würden teilen können, waren bis zu diesem Zeitpunkt meine größten Sorgen gewesen.
Doch von einem Tag auf den anderen war alles anders: mein körperlicher Zustand, meine psychische Verfassung, mein Alltag. Was vorher selbstverständlich war, ging nicht mehr. Um unsere Kinder kümmerte sich viele Monate eine professionelle Familienpflegerin. Statt wie bisher die Hobbies und U-Untersuchungen der Kinder, koordinierte ich nichts als eigene Arzttermine.
„Sie sitzen auf einem Pulverfass!“, höre ich seit über acht Jahren in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen. „Das ist eine tickende Zeitbombe, die Sie da in ihrem Kopf herumtragen!“
Es ist der Zahnarzt, der mich bei der jährlichen Reinigung verlässlich erinnert. Die Gynäkologin, die sich bei der Vorsorge nach meinem allgemeinen Befinden erkundigt. Die Hausärztin, die mich zur MRT-Kontrolle in die Klinik überweist. Sie alle kennen meine Diagnose: In meiner linken Hirnhälfte befindet sich ein blutgefülltes Gefäß, das da nichts zu suchen hat.
Die behandelnden Ärzte gehen davon aus, dass es dort immer schon war, ich es von Geburt an in mir trage. Es sitzt an unguter Stelle, weshalb es bisher noch nicht entfernt wurde. Das Schlimmste, was dieses Gefäß anrichten kann, ist 2016 passiert: Es hat geblutet. Und ich hatte Glück im Unglück. Denn ich bin noch hier!
Heute – mit Abstand zu dieser für mich und uns als Familie schlimmen Zeit – kann ich sagen: Meine Erkrankung liegt wohl im Mittelfeld der Scheußlichkeiten. Es hätte alles noch viel schlimmer kommen können. Aber an den Moment, in dem ich mich damals in der Klinik fand, erinnere ich mich, als wäre es gestern. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich mich mit meiner eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen, meine Gesundheit für eine ganze Weile allem voranstellen.
So sehr ich mir damals die wilden Zeiten zwischen Familie, Job und Kinderfesten zurückwünschte, so sehr schien mir die Welt jenseits meiner Schlafzimmertür plötzlich fremd und furchteinflößend. Ich lag in meinem Bett, starr vor Angst. Über die Monate, die ich da lag, erfuhr ich einen neuen Blick auf mein Leben und ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem ich meiner vermeintlichen Pflicht nicht mehr nachkommen konnte, hinterfragte ich plötzlich alles: meinen Alltag, meinen Job und nicht zuletzt meine Rolle als Mutter.
Damals nahm ich mir vor: Wenn das ein gutes Ende mit mir nehmen sollte (nämlich erstmal gar keins!), dann will ich nicht länger durch mein Leben hetzen unter dem ständigen Druck, das zu schaffen, was – wenn wir mal ehrlich hinsehen – weder schaffbar ist noch das, was ich wirklich will.
Umso mehr ich in meinen Alltag zurückfinden durfte, desto klarer wurde mir, wie wichtig es ist, dass wir unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen leben – und es genießen. Denn wir haben nur dieses eine. Und das kann von einem Moment auf den anderen vorbei sein.
Was mich damals sehr beschäftigt hat, war die Frage: Kann ich mein Leben je wieder lieben lernen, wenn es mir denn so einen Klotz zwischen die Beine wirft?
Meine „Kopfsache“ habe ich aufgeschrieben, um diese Frage für mich zu beantworten. Weil ich selbst nicht daran glauben konnte, dass je alles wieder gut werden könnte. Anfangs ging es mir dabei nicht um eine Veröffentlichung. Erstmal floss die Geschichte ganz einfach aus mir heraus. Ich schrieb auf, was ich erlebte. Um meine Angst loszuwerden. Zu verarbeiten. Klarzukommen. Oder besser: nicht durchzudrehen.
Um meine Gedanken und Gefühle zu sortieren. Später dachte ich dann: Diese Geschichte will ich gerne erzählen. Ich will mit anderen Menschen, insbesondere Müttern teilen, was ich auf meinem Weg gelernt habe. Denn niemand muss erleben, was ich erlebt habe, um zu erkennen, dass es manchmal sehr kleine Dinge sein können, die uns das große Glück bedeuten. Rückblickend waren es tatsächlich die kleinsten Alltagsmomente, nach denen ich mich verzehrte, als ich da lag, voll verkabelt, rundum überwacht. Nichts anderes.
Vor dem Hintergrund meiner Erfahrung und der Diagnose, die mich mein Leben lang begleiten wird, habe ich mich von überhöhten Ansprüchen an mich selbst verabschiedet und meinem Handeln so gut es geht die Frage vorangestellt: „Was will denn eigentlich ich?“. Das klappt nicht immer und im wilden Alltag und mit Kindern – unabhängig davon, wie viele es sind! – gleich dreimal nicht.
Trotzdem liegt mein Fokus auf allem, was mir wirklich wichtig ist: meiner Familie, den Kindern und meiner Leidenschaft, dem Schreiben.
Ich umgebe mich heute vor allem mit den Menschen, die mir wichtig sind. Die ich liebe, mit denen ich mich wohl fühle. Meinen Bürojob, von dem ich zunehmend müde war, habe ich vor ein paar Jahren an den Nagel gehängt, um mich auf das konzentrieren zu können, was ich am liebsten mache: schreiben. Ich will nichts mehr auf später verschieben. Denn ich weiß nicht, wann mir das Leben die nächste Katastrophe vor die Füße spuckt. Und um meine Mutter zu zitieren: „Ein Glück weißt du das nicht. Man stelle sich vor, du wüsstest das!“
Auch wenn da ein Damoklesschwert über mir wie auch meiner Familie hängt, will ich mir keine Sorgen machen um Dinge, die vielleicht gar nie passieren. Meine Kinder wissen: Ihre Mama muss immer mal wieder ins Krankenhaus. Im vergangenen Jahr war es wieder so weit. Häufiges Stolpern, rechtsseitige Taubheit, zunehmendes Schwächegefühl. Ein MRT bestätigte meine Vermutung.
Da arbeitete wieder was in meinem Kopf. Das Gefäß, das bis dahin eine Art vorübergehende Aufenthaltsgenehmigung genossen hatte, sollte nun entfernt werden, wo es zu stören begann. Doch die für den Folgetag geplante OP wurde kurzfristig wieder abgesagt. Es bleibt für das behandelnde Ärzteteam eine permanente Risikoabwägung: Birgt der Eingriff das größere Risiko oder ist es gefährlicher, weiter mit diesem Gefäß im Kopf herumzulaufen?
Wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt habe, dann ist es, dass das Leben über die Wendungen, die es nehmen will, selbst bestimmt. Und dass es womöglich klüger ist, in Kapiteln zu denken, statt vorschnell einen Punkt zu setzen.
Seit diesem einen Tag im Januar vor bald neun Jahren durften wir viele Geburtstage feiern. Der Morgen, an dem unsere Älteste fünf wurde, wird mir für immer fehlen. Aber solange wir Zeiten erleben dürfen, in denen es mich ärgert, dass die Kinder vielleicht mal ein Loch im Zahn haben, sich in den geteilten Kinderzimmern an die Gurgel gehen oder abends noch drei Körbe Wäsche darauf warten, gefaltet zu werden. (Was nicht bedeutet, dass mich eine dieser drei Tatsachen nicht auch mitunter zum Heulen brächte!), dann will ich glücklich sein. Denn solange das unsere Probleme sind, ist – für den Moment gesprochen – alles gut!
Ich danke allen, die mich bis hier hin auf meinem Weg begleitet haben! Meiner Familie und meinen Freund:innen, die sich im Notfall aufspannen wie ein Netz und mich schneller auffangen als ich fallen kann. Den Ärzt:innen, die mich nicht nur medizinisch bestens beraten und betreuen, sondern auch als Mensch im Ganzen sehen. Und in diesem Moment auch dir, liebe Claudi, die du mich meine sehr persönliche Geschichte hier auf deinem großartigen Blog erzählen lässt.
PS: Lies mehr von mir hier und höre gern in meinen Mini-Podcast rein.
Fotos: Anette Göttlicher, privat
Alles Liebe,
❤️❤️❤️
Danke mit ❤️
Danke für deine Geschichte und weiterhin so viel Kraft und positive Energie wünsche ich Dir! ❤️
Danke DIR, Julia, für deine lieben Worte!
Liebe Maike,
herzlichen Dank für das Teilen deiner Geschichte – es tut gut, sich nicht alleine mit teils schlimmen Diagnosen zu fühlen.
Herzliche Grüße
S. Michels
So gerne! Herzlichen Dank für deine lieben Worte hier!
… ein Scheibchen Optimismus und bewusst sein für Dankbarkeit im Alltag mitgenommen. Danke!
Das freut mich sehr, liebe Julia! Vielen Dank, dass du hier liest und so schön zusammenfasst für dich – und mich ❤️
Liebe Maike, wir schön, dass du deine Geschichte hier teilst, sie öffnet auch mir die Augen, und ich habe einen schönen Blog dadurch entdeckt,
alles Gute, Daniela
Liebe Daniela, vielen Dank für deine liebe Rückmeldung und wie schön, dass ich dich nun bei mir weiß ❤️
Danke für den tollen Beitrag, der mir die Tränen in die Augen getrieben hat. Wir wissen aus eigener Erfahrung, wie so ein kleines Gerinsel alles ändern kann! Ich drücke dir von Herzen die Daumen, dass alles gut bleibt und in nur wenigen Momenten an deine Krankheit erinnert wirst.
Liebe Caroline, vielen Dank für deine Anteilnahme! Und ja, so eine vermeintlich kleine Sache kann ganze Leben auf den Kopf stellen… Tut mir leid, dass ihr schon ähnliche Erfahrungen machen musstet! Bei meinen Klinikaufenthalten hatte ich viele Begegnungen mit Mitpatient:innen. So viele Schicksale! Und auch wenn jedes für sich auf seine Weise ganz unterschiedlich war, fühlte ich mich im Austausch immer gleich nicht mehr so allein mit meiner Sache. Das tut gut! Alles Gute euch! Und Danke für deine lieben Worte hier! Maike
Danke für diese berührende Geschichte, die einen sehr zur Reflexion des eigenen Alltags anregt. Von Deinem Optimismus kann ich mir eine übergroße Scheibe abschneiden!
Liebe Doro, Danke für deine Worte! Und wie schön. Denn genau das ist mein Wunsch, dazu will ich inspirieren, wenn ich meine Geschichte erzähle! Alles Liebe, Maike
Was für eine wunderschöne Formulierung “die sich im Notfall aufspannen wie ein Netz und mich schneller auffangen als ich fallen kann”!