Leistung solle sich wieder lohnen, heißt in einem SZ Artikel über die Neustrukturierung bei SAP: Mitarbeiter würden ab sofort in drei Gruppen eingeteilt: die Außergewöhnlichen, die Zufriedenstellenden und die, die sich verbessern müssten. Die Pläne lesen sich seltsam in einer Zeit, in der viele eine Abkehr vom Leistungsprinzip in Schulen fordern. Von einer vier Tage Woche träumen. Und ich frage mich: Muss grad alles immer so extrem sein…
Ein großer Bereich, in dem es für mich gefühlt kaum mehr ein „normal“ gibt, ist Essen und Trinken. Vegan und Vegetarisch ist dabei beinahe schon ein alter Hut, heute werden Mahlzeiten durch Proteinshakes ersetzt und Alkohol trinkt man entweder so richtig – oder eben gar nicht.
Aber gibt es wirklich kein Zwischending zwischen Komasaufen und totaler Abstinenz mehr? Und müssen alle, die gar keinen Alkohol mehr trinken, (ich auch zwei Monate lang), unbedingt in Flatrate davon reden, wie lebensverändernd es sei (auch ich)? “Die öffentlichen Streber sind zur invasiven Art geworden”, schreibt die SZ. Puh, ich fühle es. Dabei stöhnen wir alle ständig, dass alles so anstrengend geworden sei.
Ich frag mich, ob wir es uns nicht selbst anstrengend machen mit dieser Dauerreglemetierung?
Werner Bartens schreibt in der SZ: “Hinter der Entwöhnungsrhetorik steckt womöglich der Wunsch, dass man seinen Körper besenrein übergeben will.” Also so, wie wir es von Airbnbs gewöhnt sind. Er schreibt weiter, dass es “dafür eine Räumungsklage gegen das alte Ich brauche. Wegen Eigenbedarfs.”
Und er formuliert bissig, aber irgendwie treffend: “Ich ist hinterher ein anderer, (…) rundum scheckheftgepflegt, wenn die bulgarische Pflegekraft und später der Sensenmann vor der Tür stehen.” O man. Und dann schreibt er noch: “Den Widerspruch, dass die Gleichung ‘Gesund bis ins Grab’ nicht aufgeht, scheint die Verzichtsfanatiker nicht zu stören.”
In den Lagern seinen eigenen Weg, vielleicht sogar einen Mittelweg zu finden, ist nicht leicht. Tatsächlich gibt es seit diesem Jahr laut Weltgesundheitsorganisation keine “okaye” Menge Alkohol mehr, die man bedenkenlos konsumieren kann. Macht ein schlechtes Gewissen, oder? Oder gibt es vielleicht doch einen risikoarmen Konsum?
Gesunde Lebenshaltung ist zum Wettbewerb geworden, ohne Grau, bloß Schwarz oder Weiß. Überall wird zum Verzicht aufgerufen. Eine Fastenzeit braucht niemand mehr, das gesamte Jahr ist eine Challenge.
Auch ich möchte mich möglichst gesund ernähren und bewegen. Dennoch fühle ich mich unter Druck – von der Gesellschaft, aber am meisten von mir.
Man kann der öffentlichen Enthaltsamkeit nur schwer entfliehen, genau wie man kaum drumherum kommt, im nachmittäglichen Eltern-Hausaufgaben-Betreuungsbattle mitzumischen, einfach, weil es alle machen. Wer möchte schon, dass das Kind die Schule nicht schafft, oder allein angeduselt oder kohlenhydratschwer irgendwo herumsitzen? Wenn ich es so aufschreibe, klingt es echt unentspannt.
Vielleicht ist es wieder an der Zeit, dass wir mehr auf unser Bauchgefühl hören? Im wahrsten Sinne des Wortes, aber auch im übertragenen? Nicht siebzehn Ratgeber lesen, sondern unseren eigenen (einen Mittelweg?) gehen. Für mich zumindest machen gutes Essen und Trinken, Zusammensitzen, Anstoßen und die gelegentliche Lust auf Rausch definitiv das Leben aus.
Wenn ich so drüber nachdenke, täte uns Mittelmaß in vielen Bereichen gut, oder? Eine drei oder vier in einer Klassenarbeit reicht, oder nicht? Und der eigene Garten muss auch kein Anwärter sein für das „Die schönsten Gärten Deutschlands“-Buch, um darin eine gute Zeit zu haben.
Sehnen wir uns nicht alle nach mehr Leichtigkeit? Vielleicht dürfen wir dann nicht immer so streng mit uns sein.
Foto: Shutterstock
Was denkst du?
Deshalb hab ich mich Anfang Januar von Instagram verabschiedet und das tut so gut. Denn den Ansprüchen dort gerecht zu werden und sich nicht immer schlecht zu fühlen, war für mich unmöglich. Ich habe nun einige ausgewählte Substack Newsletter. Den Unterschied merke ich sehr.
Eine spannende Entscheidung – und wie schön, dass du hier auch noch liest.
Ganz liebe Grüße,
Claudi
Hallo Claudia. Ich beschäftige mich zur Zeit viel mit den Wechseljahren, sehe Berichte an, höre Podcasts und lese Bücher darüber. Überall wird einem gepredigt, keine Kohlenhydrate mehr essen, kein Zucker mehr konsumieren, und auf gar keinen Fall Alkohol trinken. Ansonsten wird man zu einem übellaunigen, dicken “Monster” das keiner mehr ansehen will. Mich hat das auch sehr unter Druck gesetzt, weil ich einfach gerne mal was Süßes zum Abschluss des Tages esse und an manchen stressigen Tagen oder auch an manchen schönen Tagen gerne ein oder zwei Gläser Sekt trinke. Weil ich einfach mein Leben genießen will und mit Leichtigkeit und guter Laune durchs Leben gehen will, wer weiß wie lange uns überhaupt noch bleibt!? Dieses schwarz-weiß Denken, in VIELEN Bereichen unserer Gesellschaft, finde ich keine gute Entwicklung. Dieser Druck von außen, wie man zu sein hat, das fängt ja schon ganz früh bei unseren Kindern an und zieht sich dann durchs Leben hindurch. Aber das Gute ist ja, dass man da nicht mitmachen muss und sich davon einfach abgrenzen kann. Ich tue dies Schritt für Schritt und versuche auf mein ganz eigenes Bauchgefühl zu hören, was ich gerade will und was mir gerade guttut.
Hallo Claudi,
Ich lebe genauso wie ich will und ich bin dabei sehr glücklich. Man muss nichts mitmachen, die Meinung der Anderen interessiert mich nur noch wenig. Ab einem gewissen Alter weiss man, was man braucht oder nicht. Lese aber auch nur deinen Blog. Vielleicht lassen sich einfach zuviele von Socialmedia beeinflussen.
Alles Liebe
Christina
Liebe Christina, o ja, ich glaube, das spielt oft mit rein.
Es ist Fluch und Segen zugleich.
Wie toll, dass du deinen eigenen Weg gefunden hast.
Ganz liebe Grüße,
Claudi
Witzig, genau so geht es mir auch. Und auch wenn es oft total gut tut, sehne ich mich nach den Ausnahmen, merke aber, dass sie mir ein schlechtes Gewissen machen.
Ich möchte noch viel mehr auf meinen Bauch hören.
Alles Liebe,
Claudi
Leichtigkeit – oh, ja! Die Sehnsucht ist groß. Manchmal denke ich, dieser Wunsch nach Kontrolle über den eigenen Körper, über die Gesundheit, die Karriere und die perfekt dekorierten vier Wände hat vielleicht etwas damit zu tun, dass die schrecklichen Dinge im großen Weltgeschehen, die für den Einzelnen nicht kontrollierbar sind, immer näher rücken. Es kommt mir vor, als entstünde ein neues Biedermeier, ein Rückzug in die private Idylle und Perfektion, in einer Welt, in der die bekannte (politische) Ordnung über den Haufen geworfen und das Misstrauen in “die da Oben” groß ist. Ich selbst ertappe mich auch oft dabei, mir dieses oder jenes künftig verkneifen zu wollen, alles immer besser machen zu wollen. Da bin ich das erste Mal in meinem Leben fast froh darüber, dass ich ganz schrecklich wenig Ehrgeiz und Selbstdisziplin habe :). Denn ich stelle fest, dass ein bisschen mehr verschwende-deine-Jugend-Gefühl (naja, in meinem Fall verschwende dein mittleres Alter) ziemlich oft ziemlich gut tut. Da gab es doch mal diesen schönen Spruch mit den Jahren, die man mit Leben Füllen soll und nicht umgekehrt… In diesem Sinne: Auf ein fröhliches Mittelmaß, Danke für diesen wunderbar inspirierenden Text und alles Liebe
Michaela
Das ist super spannend, was du da schreibst.
Ich sehne mich total nach Leichtigkeit, bin aber ein unglaublich ehrgeiziger Mensch, in jeder Hinsicht.
Jahrelang fand ich das super, aber jetzt merke ich, dass ich da nur schlecht aus mir raus kann.
Und wir gut und leicht ich mich fühle, wenn ich ausnahmsweise mal nicht laufen gehe – sondern auf dem Sofa chille.
Verrücktes Leben!
Alles Liebe,
Claudi
Liebe Claudi,
Bauchgefühl ist ein gutes Stichwort.
Ich habe es genau andersherum erlebt, als ich nach und nach lauter Nahrungs- und Genussmittel aussortiert habe, weil sie mir einfach nicht mehr guttaten.
Du glaubst gar nicht, wie oft ich erklären musste, dass es sich nicht nach Verzicht anfühlt, wenn man schlagartig weniger Schmerzen und mehr Energie hat.
Und dass Genuss nicht unbedingt an Klassiker wie Milchschaum, Sahnetorte und Aperol Spritz gebunden ist.
Da bin ich ganz froh, dass es zumindest in meiner Gegend so spannende, leckere Alternativangebote und das entsprechende Verständnis gibt.
Liebe Grüße
Auch wieder wahr und auch so gut.
Danke für das Teilen deiner Erfahrung.
Liebe Grüße,
Claudi
Ich war immer Mittelmaß und damit auch zufrieden. Von Zeit zu Zeit macht media mir auch ein schlechtes Gewissen, aber ich versuche mich dann immer wieder zu erden. Weil eigentlich reicht mir mein Lebensstil so wie er ist. Ich habe keine Lust mich Dauernd in allen Bereichen zu optimieren.
Hallo, ich trinke schon immer gerne mal einen Aperol oder einen Sarti usw., doch wie gesagt nur einen, denn ich vertrage schon mein ganzes Leben lang Alkohol wirklich schlecht und war daher in meiner Jugend auf dem Land liebend gern bei Parties die Fahrerin. Lustig ist, dass ich eher immer wieder rechtfertigen muss, warum ich nur einen trinke… das ist echt total blöd! Aber ich hasse es so sehr, wenn nach einer schönen Party, einem netten Treffen der nächste Tag im Eimer ist, daher habe ich da echt einen Ekel vor dem Zweiten. Ich denke in Punkto Mittelmaß ist vor allem eine tolerante Grundeinstellung der Schlüssel zum Glück. Ich lebe, wie es mir gut tut und lasse damit andere in Ruhe und sie leben so, wie es ihnen gut tut. Das hilft sehr! Den Ehrgeiz habe ich im Griff, seit ich immer wieder in Teams arbeite, die sind nämlich nur so gut, wie auch der Letzte im Boot es ist. Da musste ich oft was aushalten, aber im Grunde genommen macht es mich glücklicher ein Teil des Ganzen zu sein, als ein Einzelkämpfer. Das ist mein Weg.
Liebe Claudi, ich kann dir nur beipflichten. Gerade gestern postete eine Bekannte von mir eine riesengroße vegane bowl. Im ersten Moment sah es bunt und unglaublich gesund aus im zweiten Moment fragte ich mich, ob das alles so richtig ist wie es gerade läuft. Am Wochenende postete sie, dass sie alleine im Wellnesshotel Kraft sammelt für ihren Familienalltag. Ich frage mich, ob unsere Großmütter nicht herzlich lachen würden. Natürlich bin ich für self care und gute Ernährung aber mussten unsere Großmütter nicht mit der Hand waschen und viele Hausarbeiten unter anderen Bedingungen erledigen als wir heute? Beschweren wir uns zu viel? Sind wir sensibler geworden? Ich denke das was uns so sensibel heute macht, als Frau, ist dieser große Druck von außen perfekt zu sein. Perfekt in der Mutterrolle auf beruflicher Ebene und in der Ehe. Mein Mann und ich haben zwei wunderbare Töchter auf dem Gymnasium, es geht uns gut. Ich koche eine gesunde Mischkost und achte auf viel frischer Luft und guten Schlaf. Reicht das nicht? Muss es immer mehr sein? Müssen die Dinge einen Namen bekommen die ich für meine Kinder tue? Ich bin weder bei Facebook noch bei Instagram war ich noch nie alleine dafür werde ich schief angeschaut. Ich möchte einfach nur in Ruhe leben mit meiner Familie und die schönen Dinge des Lebens genießen. Neulich sagte meine kleinere Tochter beim Mittagessen, “… so ein köstlicher Hähnchenschenkel und das lässt sich meine Freundin entgehen…” sie weiß,dass dieser Hähnchenschenkel nicht von den Bäumen fällt, aber sie sagt “ich weiß ja wo du das einkaufst Mama”. Ich finde es geht um das Bewusstsein und die Achtsamkeit die wir unseren Kindern mitgeben müssen nicht der Hype nach neumodischen Superlativen. Am Ende geht es darum ein glückliches Leben voller Liebe geliebt zu haben. Ich bin Stillberaterin mit Herz und Seele und versuche den Müttern den Druck zu nehmen. Ohne Druck und nur mit viel Bauchgefühl kommt alles ins Fließen auch die Milch…:-). Alles liebe Jasmin
…. kurzer Nachtrag… ich bin gerade in einem Fernstudium zur Wechseljahrsberaterin einfach weil ich alles was uns Frauen betrifft unglaublich spannend finde egal ob Teenager Jahre die fruchtbaren Jahre oder halt unsere Wechseljahre. Ich bin noch ganz am Anfang meines Studiums aber was ich jetzt schon alles gelernt habe…müssten wir Frauen so unglaublich stolz auf uns sein und sollten viel weniger streng mit uns sein. Außerdem finde ich, hat jede Frau das Recht auf eine Wechseljahrsberatung um das komplette fundierte Wissen um Hormone, Hilfsmittel und alles drumherum zu wissen. In der Pubertät, zur ersten Menstruation, begleitet uns meist unsere Mutter, in der Schwangerschaft ist eine liebevolle Hebamme für uns da nur in den Wechseljahren sind wir auf uns gestellt. Da sollten wir uns viel mehr zusammen tun austauschen und füreinander da sein. Alles liebe, Jasmin
Herrlich, ich lach mich gerade schlapp :)…. so wunderbar und treffend geschrieben!
Ich befürchte, ich bin die Frau, welche angeschiggert und vollkommen satt freudig auf das nächste Essen wartet. Egal, wie verbissen, gesund oder glücklich alle um mich herumsitzen.
Wir diskutieren Themen zu gern kaputt und nehmen uns immer mehr Lebensfreude.
Jeder wie er mag!
Ich mag euch und wünsche allen liebenswerten Wesen hier ein tolles Wochenende.
Liebe Grüße sendet Ute