Ich habe wenig Selbstbewusstsein und ich ärgere mich ständig drüber. Dennoch sage ich meinen Kindern oft das hier: „Lass andere merken, wie gut du etwas kannst, statt dich selbst zu loben.“ Mir fällt nämlich auf, wie viele Kinder mir ständig lautstark davon erzählen, dass sie gigantisch gut im Fußball seien oder super Englisch könnten oder was auch immer. Bis ich feststelle, dass sie es nicht können. Klar, es sind Kinder. Aber ich find‘s andersrum schöner. Und ich frage mich, warum mich Selbstbewusstsein eigentlich so triggert…
Selbstbewusstsein ist voll im Trend.
Ein hohes Selbstwertgefühl zu haben, ist in. Und tut gut. Laut eines Artikels in GEO gilt es heute sogar als Garant für ein gutes Leben, den meisten gilt es als durchweg erstrebenswertes Merkmal. Längst sei „ein ganzer Markt um die Arbeit am Ich entstanden: mit der Verheißung, sich unter Zuhilfenahme von Ratgeberliteratur und Coaches endlich loszusagen von der Unzufriedenheit, dem Hadern, den Zweifeln. Und den “inneren Kritiker” zu besiegen, das eigene Selbst bedeutend zu stärken.“
Ich will das auch. Theoretisch. Warum aber erschreckt mich großes Selbstbewusstsein dann geradezu? Ist das mein Alter? Meine Generation? Meine Erziehung? Ist das altmodisches Gedankengut? Ist das etwas ganz persönliches? Fühle ich mich – vielleicht durch die Tatsache, dass ich mich und mein Tun so oft in Frage stelle – neben diesen Menschen einfach klein? Reagiere ich deshalb so empfindlich darauf?
Kann man zu selbstbewusst sein?
Auch eine sehr bekannte Autorin gibt sich sehr selbstbewusst auf ihrem Instagram-Account und als ich das das erste Mal las, schwankte ich zwischen Erstaunen, Entsetzen und großer Bewunderung. Fragte mich aber auch gleich, ob ich nicht insgeheim gern so wäre wie sie. Haben meine Eltern das vielleicht aus Versehen verbockt?
Vermutlich nicht. Denn laut eines Artikels im Stern haben Eltern zwar Einfluss auf die Selbstwertentwicklung ihrer Kinder, besonders in den ersten fünf Lebensjahren. Forschungen haben aber gezeigt, dass mindestens 50 Prozent der Persönlichkeitsmerkmale, die mit dem Selbstwertgefühl zusammenhängen, genetisch bedingt sind. Ups…
Wie viel Selbstbewusstsein ist gesund?
Ich finde Zurückhaltung dennoch irgendwie sympathisch, vielleicht auch, weil es für mich so einen Zauber hat, Fähigkeiten und Talente an Menschen selbst zu entdecken. Und weil es so gut tut (und beruhigend ist), wenn jemand statt von Dingen, die er gut kann, von seinen Schwächen erzählt. Wie geht‘s euch?
Auf der Seite eines Nachhilfestudios habe ich das hier gelesen: „Ein gesundes Selbstbewusstsein beruht auf einer ausgeglichenen Sicht auf sich selbst – man ist stolz auf seine Fähigkeiten und erkennt gleichzeitig seine Schwächen.“ Ich wünsche meinen Kindern, dass sie ihre Fähigkeiten und Talente realistisch einschätzen können und dass sie wissen, dass wir sie lieben, egal wie gut sie irgendwas können.
Und mir wünsche ich mehr Selbstbewusstseins-Toleranz. Und natürlich mehr Selbstbewusstsein.
Wie viel Selbstbewusstsein habt ihr? Und welche Dosis findet ihr sympathisch?
Foto: Shutterstock
Nachdenkliche Grüße,
Liebe Claudi, ich denke es ist ein Generationen-Ding, Prägung und Erziehung. Wir unterhalten uns oft in bei Arbeit darüber und hören es von den Führungskräften, dass hinter dem großen Selbstbewusstsein und Forderungen oft nicht so viel steckt. Wir sind unser Verhalten gewohnt, deshalb ist es uns sympathischer. Aus Sicht der Arbeitswelt bin ich gespannt wo es sich die nächsten Jahre hin entwickelt.
Wie immer ein spannender Artikel von dir. Liebe Grüße Daniela
Liebe Daniela, und so ein spannender Kommentar! Danke dafür.
Liebe Grüße
Claudi
Hallo liebe Claudi,
Gerade heute Morgen habe ich mich wieder gefragt, ob ich genug selbstbewusst bin.
Ich habe mir eine echt aufällige knallige Bluse in Orange und Pink gekauft, sooo schön…….schon seit immer liebe ich es bunt und knallig, aber ich habe mich immer zurückgehalten, weil ich das Gefühl hatte, schräg angeschaut zu werden….erst jetzt mit 47 Jahren habe ich genug Selbstbewusstsein und laufe so rum, wie es mir passt. Und siehe da, seither bekomme ich immer wieder Komplimente. Bei anderen Themen habe ich aufgehört, mich mit Anderen zu vergleichen und finde mich echt ok. wie ich bin.
Meine 15 jährige Tochter, hat mehr Selbstbewusstsein, als ich es damals hatte, zum Glück ! Ich glaube, das ist nötig und dient auch als Schutz, in dieser Zeit. Ich finde es toll, dass sie sich gut behaupten kann und doch sehr empathisch und wohlwollend ist. Sonst bin ich gleicher Meinung wie du, dass mir zurückhaltende Persönlichkeiten eher sympatisch sind.
Alles Liebe
Christina
Ich sehe es auch wie du, aber ich glaube unsere Erziehung war anders. Bescheidener und hörender. Ich möchte dass meine Kinder selbstbewusster erzogen werden, wie ich. Nicht so viel gehorchen müssen, mehr diskutieren dürfen etc. Jemand der aber rumschreit wie toll er ist und dann ist nichts dahinter! Oh nein! Das ist auch peinlich und hat eigentlich ja auch nichts mit einem realistischen Selbstbewusstsein zu tun, oder?
Liebe Claudi,
früher verband ich mit dem Wort „Selbstbewusstsein“ etwas Lautes, vielleicht Schrilles. Ich dachte, wer selbstbewusst ist, findet alles an sich super, pfeift auf die Meinung der anderen und hat nie Angst, peinlich aufzufallen oder zu scheitern. So ganz ohne etwas dafür tun zu müssen, sozusagen angeboren. Dazu zählte ich mich jedenfalls nicht.
Heute seh ich das ein bisschen anders. Ich denke, es hat – ganz im Wortsinn – damit zu tun, sich seiner selbst „bewusst“ zu sein. Also genau zu wissen, was man kann und was man eben auch nicht kann. Was man braucht, um glücklich zu sein, wo die eigenen Werte und Grenzen liegen, wie man sein und leben will. Und das aber auch als stetigen Prozess zu verstehen und immer wieder zu hinterfragen.
Und wenn man sich all das immer wieder bewusst macht, kann man sich auf eine Art und Weise durch sein Leben navigieren, die sich gut, sicher und klar anfühlt. Weil man seinen Kompass ja quasi immer dabei hat. Letztendlich ist es vielleicht das, was nach außen strahlt und wir als echtes „Selbstbewusstsein“ wahrnehmen. Und nicht diese etwas überzogene, manchmal prahlerische kleine Schwester davon.
Ich auf jeden Fall übe das alles noch ….:-)
Liebe Grüße
Julia
Ich würde das, was Du beschreibst, nicht als Sebstbewusstsein bezeichnen, sondern eher als eine Art Kompensation von zu wenig Selbstwert. In der Fachsprache nennt man diesen Bewältigungsmechanismus Überkompensation. Jemand, der ausreichend Sebstwert hat und damit auch meist ein gutes Selbstbewusstsein, braucht das “Angeben” gar nicht. Liebe Grüße
Spannend, dass fast jeder etwas anderes unter dem Begriff versteht…
Für mich ist Selbstbewusstsein auch weniger, dass man sich selbst und seine Stärken und Schwächen gut kennt, sondern dass man seine Bedürfnisse und sein Wesen nach außen hin vertritt ohne dass man dabei hadert weilt es peinlich sein könnte oder weil man fürchtet, dass andere blöd darüber denken. Das bedeutet nämlich auch nicht zwangsläufig dass jemand laut ist oder schrill….
Genau, so sehe ich das auch. Seine Bedürfnisse und sein Wesen kann man ja aber auch nur nach außen vertreten, wenn man sich dessen bewusst ist. So als Basis quasi. Weißt du, was ich meine? Ich hab das “Konzept” Selbstbewusstsein als ich jünger war irgendwie anders verstanden – als etwas, das man halt hat oder eben nicht. Und fälschlicherweise dachte ich, das ist etwas Lautes. Und heute glaube ich, dass das, was wir landläufig unter “Selbstbewusstsein” verstehen, automatisch mitkommt, wenn man sich mit sich selbst und allem, was dazu gehört, auseinandersetzt. Und “Selbstwert” hat man meiner Meinung nach eh immer, dafür braucht man gar nichts zu tun.
Wirklich spannendes Thema, oder?
Liebe Grüße und schönes Wochenende
Ja, verstehe ich total! Habe auch darüber nachgedacht. Aber ich glaube für sowas wie „Ich möchte das Essen bei den fremden Leuten nicht so gerne essen“ oder „Ich finde diesen knallbunten Pullover schön“ braucht es nicht viel um sich dessen bewusst zu werden oder? Aber genau solche Dinge meine ich damit, dass man sie „selbstbewusst“ nach außen vertreten kann. Ob man sich selbst bewusst werden kann, ob die eigene Stimmung damit zusammenhängt dass man gerade eher Pause braucht anstelle Ablenkung – das würde ich jetzt nicht mit dem klassischen Begriff „Selbstbewusstsein“ assoziieren…
Nachtrag: Claudi, meinst du nicht vielleicht eher Bescheidenheit?