Die Reise mit meinem Kind begann bereits ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Die Schwangerschaft war eher Matathon als Spaziergang. Und als ich dachte, wir wären am Ziel, fing es eigentlich erst an. Bei einem der letzten CTGs im Krankenhaus sagte die Hebamme: „Das wird ein kleiner Freiheitskämpfer, der sich an Ölbohrinseln kettet“. Damit sollte sie nicht so falsch liegen. Denn mein Sohn schrie diese Welt an. Stundenlang. Und kämpft bis heute überall…

Er schlief wenig und kurz und schrie. Nichts war so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte und es kostete mich mehr Kraft, als ich hatte. Ich ging trotzdem in Krabbelgruppen, zum Mutter- Kind- Turnen, zum Babyschwimmen. Ich wollte so gerne all das machen, was man mit einem Baby macht.

Mein Sohn war immer der Auffällige.

Ein kleines Wesen, wie von einem anderen Stern. Während sich die anderen Babys fröhlich miteinander oder mit Dingen beschäftigten, war ich die Mama, die in der Ecke wippend ihr Kind auf dem Arm beruhigte. So fing es an, so blieb es. Auch ich wurde zur Außerirdischen, gehörte irgendwie nicht dazu.

Im Turnen steuerte mein Kind zielsicher nur Stationen an, an denen kein anderes Kind turnte. Da, wo die anderen Mütter zusammen standen, konnte mein Kind keine zehn Pferde hinbewegen. Ich winkte von weitem und wünschte mir so sehr, dazu zu gehören.

Meinem Sohn war alles zu viel. Zu viele Reize, zu viele Kinder, zu viele Eindrücke. High-Need, Regulationsstörung, Schreibaby, Hochsensibelchen,… viele Namen für das Anderssein meines Kindes.

Und immer dabei diese Stimme im Kopf: „Liegt es vielleicht doch an mir? Mache ich was falsch? Gehe ich zu viel auf ihn ein? Zu wenig? Warum kann ich ihn nicht beruhigen? Was hat er denn jetzt wieder?“

Selbstverständlich wollte ich meinem Kind helfen, in dieser Welt besser zurecht zu kommen. Die Ratgeber stapelten sich im Bücherregal, wir gingen zur Osteopathie, Chiropraxis, Erziehungsberatung, machten Reflexintegration. Manches half ihm, aber die Besonderheiten blieben. Seine Antennen sind immer auf Empfang und in seinem Kopf steht es nie still. Er sieht den Drachen mit langer Zunge in den Wolken, aber nicht den Schuh vor seiner Nase.

Er hat mir mit fünf Jahren Biolumineszenz erklärt, aber vergisst beim Mittag zu essen.

Wenn viel um ihn herum los ist, merkt er weder, dass er Hunger hat, noch Durst oder komplett nass geschwitzt ist. Nicht selten taucht er in seinen Gedanken so in seine Welt ab, dass er nichts mehr um sich herum wahrnimmt. Er grüßt dann nicht, reagiert nicht auf Fragen oder bekommt nichts mit.

Dann sehe ich sie wieder, die Blicke der anderen. Kann auf ihrer Stirn ablesen, was sie denken: „Alles eine Frage der Erziehung.“ Und ich stehe da und denke, dass ich verdammt nochmal mein Bestes geben, jeden einzelnen Tag. Aber sein Kopf eben in den Wolken steckt oder sogar auf einem anderen Planeten und ich nicht an ihn ran komme.

Wenn die Reize zu viel sind, der Tag zu anstrengend, die Kleidung falsch oder ein Splitter im Finger, dann brennen bei ihm die Sicherungen durch. Dann ist Alarm und er schreit und tobt. Immer noch.

Ich schaue ihn an. Denke daran, dass er der tollste große Bruder ist, den man sich wünschen kann. Dass er es liebt, kleine Kinder zum Lachen zu bringen. Dass es ihm das Herz bricht, wenn Babys weinen und wenn er von Fremden geschimpft wird. Dass er unglaublich liebevoll mit dem kleinen Nachbarsmädchen mit Down-Syndrom spielt.

Und ich wünschte, die anderen könnten das sehen, was ich in diesen Momenten in ihm sehe.

Es fällt ihm so schwer, echte Freundschaften zu schließen. Mir scheint es, als müsste er sich hart erarbeiten, was den anderen so leicht fällt. Er spielt Rollen, testet aus, wie er ankommt, übertreibt. Oft versteht er nicht, was ein anderes Kind verärgert haben könnte. Möchte sich so gern verabreden, findet aber niemanden. Ich versuche zu erklären  und stoße immer wieder an Grenzen – an seine und meine. Und an die der anderen sowieso.

Ich weiß, dass wir damit nicht die einzigen sind. Ich bin Lehrerin und in meinem Klassenraum sitzt immer mal wieder so ein Außerirdischer. Ein Kind, dessen Gehirn anders programmiert ist. Diese Kinder sind oft herausfordernd, ohne Frage. Aber ich wünsche mir so sehr, dass auch sie einen Platz in unserer Mitte finden.

PS. Womöglich hat das „Außerirdischsein“ meines Kindes einen Namen. Wir mussten den Weg zur Diagnose schon mal abbrechen, werden ihn aber nochmal in Angriff nehmen. Ich habe hier mit Absicht keine genannt.

Foto: Symbolbild/Shutterstock

Ella