Es freut mich, dass Madeleine, alias Frau Freudig mit ihrer Land-Kolumne bei euch so gut ankommt. Ich finde ihre Geschichten sind nicht nur wunderbar geschrieben, ich lerne auch jedes Mal was Neues. So auch heute. Dieses Mal geht es um ein kleines Kälbchen. Und noch eins. Aber lest selbst…
Landleben, Vegan, Vegetarisch leben, Viehhaltung,
Es war ein warmer Donnerstagabend als wir auf die Alm gefahren sind, um die Kühe Suzette und Elsa, die beide in etwa zwei Wochen ihren Nachwuchs bekommen sollten, zurück ins Tal zu holen. Bis zur Almhütte konnten wir mit dem Auto fahren, dann ging es zu Fuß weiter. Als wir uns den Mädels näherten, sahen wir schon: Suzette war schneller als wir. Neben ihr, aus der Ferne kaum zu erkennen, stakste ein kleines Kälbchen umher. Es war wohl das kleinste Kälbchen, das ich je gesehen habe: Sienna, ein Mädchen.

Doch nun mussten wir Elsa, Suzette und das Kälbchen erstmal von den anderen Kühen trennen und zum Weg herunter treiben. Das klingt wahrlich einfacher, als es tatsächlich war. Die übrigen Kalbinnen, 13 Stück an der Zahl, waren derartig neugierig und aufdringlich, dass die Situation einem wirklich völlige Konzentration abverlangte: Elsa und Suzette von den anderen trennen, das Kälbchen gleichzeitig abschirmen, sodass es nirgendwo unter die Räder, beziehungsweise Klauen gerät und dabei noch auf die anderen Kühe achten, die ständig Aufmerksamkeit von einem wollten. Es hat lange gedauert, aber den ersten Teil des Weges haben wir schließlich gut gemeistert.
Landleben, Viehzucht, Kalb, Vegan, Vegetarisch leben,
An der Hütte angekommen verstauten wir Sienna sicher auf der Rückbank des Wagens. Philipp sollte im Auto bleiben, da weder Joyce noch ich uns es zutrauten, querfeldein von der Hütte zur Straße zu fahren. Wir beide wollten stattdessen die Kühe heruntertrieben. Doch nachdem das Kälbchen im Auto und somit aus Suzettes Sichtfeld verschwunden war, bewegte sie sich keinen Meter mehr. Was sollten wir also tun?

Ich entschied mich schließlich dazu, den Packesel zu spielen. Philipp blieb wie gehabt im Auto, Joyce trieb die Kühe an und ich, ich trug Sienna wie einen überdimensionierten Schal auf den Schultern. Auf meiner linken Brust lagen ihre Vorder-, auf der rechten ihre Hinterläufe. Suzette wich währenddessen nicht von meiner Seite. Sie klebte förmlich an mir. Auf halber Strecke kam es, wie es kommen musste. Ein Kuhfladen, den ich nicht im Blick hatte, ein steiles Stück Wiese und ich lag auf der Straße. Das Kälbchen halb neben, halb unter mir, Suzette über mir, der Kuhmist an mir. Großartig. Ich spürte die blauen Flecken sofort.
Landleben, Kalbzucht, Kalb
So würde das alles nicht funktionieren. Wir mussten also umplanen: Philipp öffnete den und Kofferraum und ich ließ mich mit Sienna auf dem Schoß inmitten von Werkzeugkiste, Kettensäge und Ölfass nieder. Mit dem Auto im Schneckentempo vorweg ließen wir Elsa und Suzette nun hinter uns her trotten. Bis zur nächsten Straße waren es etwa zwei Kilometer. Normalerweise dauert dieser Weg vielleicht zehn Minuten. Doch an diesem Tag haben wir fast eine Stunde gebraucht.

Eigentlich hätten wir uns jetzt auf den Heimweg machen können. Mittlerweile war es bereits kurz vor neun, langsam dämmerte es. Doch wir hatten ein ungutes Gefühl. Suzette war mit der Geburt zwei Wochen zu früh dran, das Kälbchen selbst war ungewöhnlich klein, ja fast schon mager. Was also, wenn sie Zwillinge bekommen hatte? Und falls ja – wo war dann das zweite Kälbchen abgeblieben?
Vegan leben,
Wir waren alle müde. Aber mit dieser Unsicherheit im Gepäck wollte nun niemand nach Hause fahren. Also verluden wir die beiden Kühe flott in den Hänger und fuhren gemeinsam mit Sienna im Auto zurück zur Hütte. In drei Zonen aufgeteilt haben wir nun die Alm abgesucht. Und das war eine ziemliche Herausforderung, denn die Alm ist extrem weitläufig und geradezu übersät von Felsen, alten Baumstümpfen und kleineren Büschen. Unter diesen Umständen ein Kälbchen zu finden war vergleichbar mit der berühmten Nadel im Heuhaufen.

Es wurde immer dunkler, aber ich stapfte – ohne auch nur einen Moment lang anzuhalten – immer weiter den Berg hinauf. Ich war erschöpft, denn es war ein langer Tag gewesen. Noch am Nachmittag hatten wir den See gereinigt und zu viert rund eine Tonne Algen in den Traktorhänger geschaufelt. Ich spürte also jeden einzelnen Muskel und atmete schwer. Irgendwann blieb ich stehen, ließ den Blick schweifen und versuchte mich auf jede noch so kleine Bewegung zu konzentrieren. Lauschte – und hörte nichts. Da war nur der Wind. Ich sah ein Reh mit zwei Kitzen, einige Murmeltiere und etliche Vögel. Doch kein Kalb weit und breit. Wir waren schon in Begriff umzukehren, da die Dunkelheit alles zu verschlucken drohte, als ich im Augenwinkel etwas wahr nahm. Es war nur ein winziger Fleck hellgelben Fells, der inmitten eines Almrauschbuschs hindurchleuchtete. Ich beschleunigte meine Schritte und auf den letzten Metern fing ich sogar an zu rennen. Und da war es – eingerollt hinter dem Busch, ganz still und leise. Mit weit aufgerissenen Augen sah es mich an. Als ich mich ihm näherte fing es an laut zu schreien. Denn natürlich, es hatte in seinem ganzen kurzen Leben noch nie einen Menschen gesehen und wahrscheinlich hielt es mich für ein Raubtier. Es wollte wegrennen, aber ich nahm es in den Arm. Es war ein kleiner Stier. Samson. Zu dritt trugen wir ihn zurück zum Auto, wo seine Schwester auf ihn wartete.

Mittlerweile waren wir alle – Mensch wie Tier – völlig hinüber. Joyce setzte sich mit Samson in den Kofferraum, ich saß mit Sienna auf dem Schoß auf der Rückbank. Die Fahrt ins Tal dauerte noch fast eine Dreiviertelstunde, mittlerweile war es stockfinster. Sienna zappelte kein bisschen mehr, im Gegenteil: irgendwann begann sie an meiner Hand zu schnuppern und fing an, an meinen Fingern zu nuckeln. Das ist nichts Ungewöhnliches für Kälber, da sie in diesem Alter an so ziemlich allem herumnuckeln. Doch Sienna hörte irgendwann auf, ließ aber dennoch nicht von meinen Fingern ab. Sie hielt sie fest in ihrem Mund und – man mag es kaum glauben – schlief dabei ein. So saß ich also da, selbst schon in Begriff, einfach wegzunicken, ein kleines Kälbchen auf dem Schoß und meine Finger wie einen Schnuller in seinem Mund. Sie wachte erst auf, als wir Zuhause angekommen waren. Und auch da öffnete sie nur kurz die Augen, als ich sie in die Kälberbox trug und unter der Wärmelampe ins Stroh bettete. Danach war sie sofort wieder eingeschlafen. Samson ebenso. An einen kleinen Mitternachts-Milchsnack war nun nicht mehr zu denken.

Landleben,
Dieser kleine Ausflug war wahrlich ein Abenteuer. Doch im Grunde war alles gut gegangen. Alle waren sicher und wohlauf zuhause angekommen. Dennoch…

Wie ihr wisst sind männliche Kälber für Milchviehbetriebe ein ‚Abfallprodukt‘. Sie werden niemals Milch geben können und daher bereits nach wenigen Wochen an Kälbermastbetriebe verkauft. Nach maximal einem halben Jahr werden sie geschlachtet. Deshalb war die Freude über Sienna so groß. Endlich ein Mädchen. Sie würde als Milchkuh lange bei uns bleiben. Doch was soll ich sagen. Diese Freude hielt im Grunde genommen nur so lange an, bis wir Samson fanden. Denn bei Kühen verhält es sich mit Zwillingen so, dass bei einem Männlein und einem Weiblein das Weiblein in 98% aller Fälle unfruchtbar ist, da sie im Mutterleib männliche Hormone abbekommen hat.

Nicht nur Samson ist ‚nutzlos‘. Sienna ist es ebenso. Beide Braunviehkälber. Der Händler zahlt vielleicht 70€ bis 80€ je Kalb. Auf dem Weg ins Haus schüttelte Joyce nur mit einem Seufzen den Kopf: „So viel Aufwand und Mühe für vielleicht 150€“.

Willkommen in der Realität. Leider trägt sie viel zu oft den Titel ‚Das Nullsummenspiel der Landwirtschaft‘.

PS. Diese Geschichte ereignete sich am 4. Juli diesen Jahres – mittlerweile sind die Kälber bereits seit drei Wochen an einen Viehhändler verkauft worden.

Madeleine