Balthasar wurde am 12. Februar geboren. Wir waren beim Melken, als wir gesehen haben, dass Blume, die bereits seit einem Tag in der großen separaten Box stand, Wehen hat. Es war sogar schon ein Stück vom Fuß des Kälbchens zu sehen. Doch es hat ewig gedauert, bis es vorwärts ging. So standen wir also da, in dicken Pullis, mit einem wärmenden Tee in der Hand. Dann ging plötzlich alles furchtbar schnell. Mit einem Flutsch war der Wurm da. Und mit ihm die Erkenntnis: Mist. Schon wieder ein kleiner Stier…

Nunmehr der achte (!) in Folge. Er würde also vermutlich sehr bald schon nach Italien verkauft werden, dort in einem Mastbetrieb landen & schließlich zu Kalbfleisch verarbeitet werden. ‚Behalten‘ ist hier auf dem Hof leider keine Option. Zu groß wäre der finanzielle und der logistische Aufwand – selbst wenn der Wille da wäre: es wäre nicht machbar. Alle sprechen immer von den armen männlichen Küken…aber den Kälbern geht es wohl auch kaum besser.

Blume hat ihren Nachwuchs zunächst noch halbwegs trocken geleckt und dann hat er seine erste Milch von mir bekommen. Per Flasche. Danach, ja, danach musste Balthasar von Blume getrennt werden. Balthasar war nun jedoch für ein frisch geborenes Kalb verhältnismäßig schwer. Tragen konnten wir ihn – selbst zu zweit – unter keinen Umständen. Zu groß war die Gefahr, dass er zappeln und wir ihn wohl fallen lassen würden. Wir haben ihn also allen Ernstes in eine Schubkarre gehievt. Dieses kleine feuchte und völlig orientierungslose Bündel in so einer riesigen grünen Schubkarre. Ein Bild (von vielen, die noch folgen würden), das ich nicht vergessen werde. Und Blume? Blume hat gerufen (lange habe ich überlegt, welches Verb an dieser Stelle wohl das Passendste wäre. Als Erstes kam mir eigentlich ‚geschrien‘ in den Sinn). Ich habe schon einige Kälbergeburten miterlebt, doch bei keiner hat sich die Mutter so lange beklagt, wie Blume es bei Balthasar getan hat. Ja, ein Wehklagen, nichts anderes war es in meinen Augen und Ohren. Sie klagte am Morgen, sie klagte den ganzen Tag über. Am Abend haben wir sie von der Box zurück auf ihren Stand bringen wollen, sie sollte gemolken werden. Auf dem Weg zu ihrem Stand kam sie an der Box von Balthasar vorbei. Ist stehen geblieben, hat sich keinen Zentimeter mehr bewegt und geschnuppert, ihren Kopf zu Balthasar herunter geneigt. Wieder Wehklagen. Nur mit viel Schieben und Ziehen haben wir sie auf ihren Stand bekommen.

Balthasar indes war ein ziemlich aufgewecktes Kalb – und das von Anfang an. Nicht einmal einen Tag lang hat es gedauert, da sprang er schon herum und hat geschwänzelt wie ein verspielter Hund. Als er sechs Tage alt war habe ich ihn zum ersten Mal aus der Box rausgelassen. Nachdem die Kühe alle draußen waren hatten Balthasar und ich quasi ‚sturmfrei‘. Das war natürlich alles ungemein spannend: Was man da alles riecht – nicht nur gute Sachen, versteht sich. Aber wer so neugierig ist, dass er die Nase sogar in die Güllerinne stecken muss…bittesehr! Dieser ‚Ausflug‘ aus der Box hat sich mit der Zeit dann zur ‚festen Instanz‘ in der morgendlichen Routine eingebürgert. Die Kühe draußen, alle anderen auf der Arbeit – und Balthasar und ich machen HalliGalli im Stall. Das Größte für ihn war jedes Mal der Sprint über den Futtertisch. Seine Ohrmarken bekam er nun auch, das rechte Ohr habe ich gemacht.

Am 2. März war ‚der große Tag‘ da: ich habe Balthasar ein Halfter umgebunden und wir haben den ersten Ausflug gemacht. Erst haben wir nur eine kleine Runde über den Hof gedreht, dann ein Stück den Berg hinauf, dann um das Feld nebenan. Mit jedem Mal ein Stückchen weiter. Es war sehr lustig, seine ‚ersten Male‘ mitzuerleben. Das erste Mal Vogelgezwitscher wurde mit plötzlichem Erstarren und hektisch in alle Richtungen zuckende Ohren quittiert. Im ersten Schnee hat er die Nase bis zum Anschlag vergraben und sich dann scheinbar darüber gewundert, warum dieses nasskalte Etwas auch nach mehrmaligem Kopfschütteln nicht völlig aus den Untiefen seiner Nasenlöcher verschwinden möchte. Das erste Auto, oh my, das erste Auto hat mir alle Muskelkraft abverlangt, ihn nicht loszulassen. Er hatte panische Angst vor diesem unbekannten Gefährt. Das erste Mal andere Kühe treffen war mit viel Schnuppern und – zumindest hat es so ausgesehen – vielen ‚Ooohs‘ und ‚Ahhhs‘ der Damen verbunden. Das erste Wettrennen mit mir hat er haushoch gewonnen. Beim zweiten jedoch war er so übermütig, dass er hingefallen ist. Ich habe die Schürfwunde an seinem Bein mit Silberspray behandelt und weiter ging es. Als würde man einem kleinen Kind ein Pflaster aufkleben, weil es auf dem Spielplatz zu wild getobt hat.

Die Zeitraum zwischen dem 8. März und dem 21. Mai fehlt hier, denn in dieser Zeit war ich in Jena. Als ich wieder hier angekommen bin habe ich ihn kaum erkannt. Sein Fell ist viel dunkler geworden und gewachsen ist er auch ungemein. Er stand nun mit den anderen beiden jüngsten Kälbern, Lola und Kamille, in einem eigenen Stall. Einzig an seinem – für Stiere charakteristischen – kurzen Kopf habe ich ihn erkannt. Er hat sogar schon kleine Horn-Ansätze bekommen. Verkauft wurde er entgegen des ursprünglichen Plans nicht. Man wollte ihn behalten, noch eine Weile mit der überschüssigen Milch einiger Kühe füttern und dann zum Eigenverzehr schlachten. Deshalb war er noch da. Mit einem ‚Kampfgewicht‘ von etwa 100 Kilo war nun nichts mehr mit gemeinsamen Ausflügen – zumal er das Halfter mittlerweile nur noch ätzend fand (habe es einmal heimlich probiert, ihm das Teil anzuziehen. Er hat mir aber mitgeteilt, dass er es doof findet…auf sehr subtile Kälbchen-Art). Jeden Morgen und jeden Abend hat er seine Milch bekommen.

Aber nur weil gemeinsame Ausflüge nicht mehr möglich waren, wurde Spielen nicht zum Ding der Unmöglichkeit. Man findet immer Mittel und Wege. Und auch wenn er schon so gewachsen war, seinen eigenen Dickschädel hatte – er war mit seinen dreieinhalb Monaten noch immer ein Kind. Im Außenbereich seines Stalls stand er oft am Zaun. Ich habe irgendwann mitbekommen, dass er einem jedes Mal folgt, wenn man daran vorbeigeht. Also habe ich mir da zeitweise einen Spaß draus gemacht. Bin von links nach rechts gerannt, Balthasar mit Schwanzwedeln und witzigen Sprüngen hinterher. Gott bewahre, dass uns dabei niemand beobachtet hat. Es muss seltsam ausgesehen haben. Gekrault wurde er übrigens am liebsten am Bauch und an der Schwanzunterseite. An einem Montagnachmittag sagte mir die Bäuerin dann, dass der Schlachter diese Woche Zeit habe. Sie würde Balthasar morgen schon hinbringen.

Ich musste schlucken, aber habe alle Gedanken irgendwie beiseite geschoben und einfach meine Arbeit gemacht. Am nächsten Morgen, nachdem die Kühe gemolken und auf die Weide getrieben wurden, habe ich Balthasar noch einmal seine Milch gebracht. Ihm das verhasste Halfter umgelegt. Und aus dem Stall geführt. Eine kleine Anhängertransportbox für das Auto stand schon bereit. Wir mussten nämlich in den nächsten Ort. ‚Zuhause‘ schlachten war allein aufgrund der mangelnden Hygiene keine Option. Mal vom fehlenden ‚Werkzeug‘ ganz abgesehen. Natürlich wollte er partout nicht in diese Box, hatte Angst. Es hat vier Hände und zweimal volles Körpergewicht gebraucht, um ihn da irgendwie reinzuschieben. Klappe zu. Kalb drin. Er lief hektisch darin umher, man hat das Getrappel der Klauen gehört. Die Bäuerin musste noch Papiere holen, ich stand derweil draußen vor der Box. Was ich da wollte kann ich Euch gar nicht so genau sagen. Die Luftschlitze waren auf Balthasars Kopfhöhe, ich konnte ihn also immer wieder gut sehen. Auf einmal waren seine Augen sichtbar. Ob er nur in meine Richtung oder wirklich mich ansah, ich werde es nie erfahren, aber dennoch, plötzlich stand er ganz still da. Wir standen beide ganz still da. Wisst Ihr, es gibt diese Momente, da bewegt sich alles um einen herum nur noch in Zeitlupe. Das war ein solcher Moment. Und diese Augen in diesen Luftschlitzen. Ich werde es nie vergessen.

Ich bin schließlich mitgefahren. Wir dachten eigentlich, dass wir Balthasar nur abliefern und die Bäuerin nach einiger Zeit sein Fleisch abholen würde. Niemand dachte, dass ‚es‘ sofort passieren würde. Doch als wir auf den Hof des kleinen Schlachtbetriebs fuhren, die Eingangstore zu einer Art kleinen, mit weißen Fliesen ausgekleideten Halle weit offenstanden und der Schlachter selbst in weißer Schürze schon auf uns wartete war klar: das geht jetzt schnell. Doch mir war nicht klar, w i e schnell. Die Bäuerin und der Schlachter haben Balthasar aus dem Anhänger geholt, er sagte noch, was für ein schönes Kalb Balthasar sei. Sie führten ihn in die Halle, ich sah ihm hinterher. Ich weiß gar nicht mehr so recht, was ich da eigentlich gedacht habe. Plötzlich rief mir die Bäuerin nur ein lautes ‚Schau weg!‘ entgegen – doch ich habe nicht schnell genug reagiert.

Letztlich hat es vom Ausladen Balthasars bis zu seinem Tod keine sechzig Sekunden gedauert. Sofern man das in dieser Situation so sagen kann: besser hätte man es nicht machen können. Und ja, ich weiß wie makaber und abstrus dieser Satz klingt. Der Schlachter hatte den Bolzenschuss schneller gesetzt, als ich oder vermutlich auch Balthasar die Situation richtig einordnen konnten. Balthasar fiel sofort um und war tot. Ich drehte mich weg. Mir war schlecht. Kurz dachte ich wirklich, ich würde mich jetzt gleich mitten auf den Hof übergeben müssen. Doch Wegdrehen, Wegschauen, die Augen verschließen, dachte ich so bei mir, kann eigentlich gerade keine Option sein. Also sah ich hin. Balthasar wurde an den Beinen an einen Haken gehängt und hochgezogen. Er hing nun zum Ausbluten in voller Länge so da. Die Bäuerin und der Schlachter regelten den Papierkram, vereinbarten einen Termin für die Abholung des Fleischs und wir stiegen ins Auto. Als wir losfuhren zog der Schlachter Balthasar gerade die Haut vom Gesicht.

Geweint habe ich nicht. Geweint habe ich auch nicht, als die Bäuerin etwa 10 Tage später mit der Leber, den Nieren und dem Herzen Balthasars nach Hause kam und wir alles an die Hühner verfütterten. Ich habe auch nicht geweint, als wir vorgestern vier Kisten Fleisch aus ihrem Auto geladen haben. Als ich da stand, und wir gemeinsam etwa 80 Kilo Kalbfleisch einvakuumiert und beschriftet haben. Ich habe nicht geweint.

Aber wenige Tage später waren wir zum Grillen mit der Familie verabredet. Zwischendrin haben wir im Stall nochmal nach einem der Hasenbabys geschaut. Es war sehr krank und wir waren nicht sicher, ob es überleben würde. Als wir kamen hat es tatsächlich noch gelebt, aber es hat sich mehr gequält als alles andere. Die Bäuerin hat es schließlich erlöst. Keine fünf Minuten später saßen wir wieder am Tisch. Das Fleisch wurde serviert. Kalbfleisch. Ganz frisch. Schnitzel von Balthasar.

Ich entschuldigte mich für einen Moment, bin ins Badezimmer geflüchtet. Und hab Rotz und Wasser geheult.

Ich habe erlebt wie er geboren wurde und wie er gestorben ist.
Habe ihm seine erste und seine letzte Milch gegeben.
In der Zwischenzeit mit ihm gekuschelt, gespielt, gelacht.

Und jetzt? Was ist nun die ‚Moral‘ von der Geschichte? Die ‚Lehre‘ sozusagen? Hat diese Erzählung hier einen tieferen Sinn? Ich weiß es nicht. Entscheidet selbst.

PS. Auch jetzt noch, fast ein ganzes Jahr später, muss ich schlucken. Kein Detail, kein Lachen und keine Träne ist in Vergessenheit geraten. Auf meinem Schreibtisch steht seit dem 5. Juni 2019 eine Ohrmarke. Nummer 7924. Es ist Balthasars rechte Ohrmarke.

Herzlichst,

Madeleine