Als die Kinder klein waren, habe ich mich tagtäglich mit anderen Eltern bei Playdates über alle möglichen Themen ausgetauscht. Von Windelinhalt bis Wutanfall gab es kein Tabu. Doch je älter die Kinder werden, desto mehr fühle ich mich mit bestimmten Themen allein. Der fehlende Austausch macht es mir schwer, Dinge richtig einzuschätzen. Bräuchte es für das Leben mit Teenager nicht erst recht das sagenumwobene Dorf?
Schließlich heißt es doch immer: kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen.
Das sage ich als jemand, der ein ganz großartiges und eigentlich echt vernünftiges Teenager-Exemplar zu Hause hat. Und dennoch – obwohl unser Großer uns bislang große Sorgen erspart hat, gibt es einiges, was mich verunsichert. Pubertiere können so unglaublich gewitzt und schlagfertig sein, aber wenn es um Gefühlswelten geht, fallen sie in die Phase der Einwortsätze zurück.
Mich macht das an manchen Tagen schier verrückt. Das mag daran liegen, dass ich nicht nur immer auf dem Laufenden sein will, was die körperliche Unversehrtheit meiner Kinder angeht. Ich will auch wissen, ob es ihnen mental gut geht. Seelische Probleme haben das gleiche Gewicht wie physische Erkrankungen – das weiß ich aus Erfahrung. Ein nahes Familienmitglied hat sich vor fünf Jahren das Leben genommen. Ich weiß, dass eine Depression eine Krankheit ist, die zum Tode führen kann. Ich weiß, dass auch schon Jugendliche unter schweren Depressionen leiden können. Und ich weiß, dass Depressionen und viele andere psychische Krankheiten gut behandelbar sind – vor allem, wenn sie früh erkannt werden.
Ich weiß also, dass es sich lohnt, hinzuschauen, zuzuhören und auf Warnsignale zu achten.
Was ich nicht weiß: Wie erkenne ich bei meinem wortkargen Teenager die Grenze zwischen Null-Bock-Phase und bedenklichem Rückzug? Und wie schaffe ich es, vertrauenswürdige Ansprechpartnerin für einen jungen Menschen zu bleiben, der versucht, sich von mir abzunabeln – und das ja auch tun soll.
Auch Teenager (und ihre Familien) brauchen ein Dorf. Auch sie brauchen ein Netz aus Menschen, die da sind, die aufmerksam sind, die Verantwortung mittragen. Vielleicht nicht mehr, um beim 1×1-lernen zu helfen oder beim Schuhe binden. Aber um zu fragen: Wie geht’s wirklich? Um zu bemerken, wenn sich etwas verändert. Um Halt zu geben, wenn einer fällt. Und fallen kann man im pubertären Chaos im Kopf allzu leicht. Ich war daher unglaublich froh darüber, als ich auf Menschen aufmerksam wurde, die versuchen, ein solches Dorf zu bauen und die eine großartige Arbeit leisten.
Die Organisation Tomoni Mental Health setzt sich dafür ein, das Thema psychische Gesundheit im Jugendalter aus der Tabuzone zu holen und Aufklärung und Unterstützung für Betroffene und deren Umfeld niedrigschwellig und selbstverständlich zu machen.
Die Gründer von Tomoni Mental Health sind Alix und Oliver Puhl. Eines ihrer vier Kinder nahm sich im Alter von 16 Jahren das Leben.
In den Eltern wuchs nach der ersten Zeit der Trauer der Wunsch, diese anderen ersparen zu wollen. So riefen sie Tomoni ins Leben. Bei ihrer Arbeit dreht sich Vieles um die Befähigung des Umfelds junger Menschen zur Früherkennung psychischer Erkrankungen. Aber auch darum, wie und wo von psychischen Erkrankungen betroffene Jugendliche, ihre Eltern, Geschwister und Freunde Hilfe bekommen. Mittlerweile arbeitet für Tomoni ein Team von 24 Mitarbeitenden nach dem Leitsatz „Es braucht ein ganzes Dorf“.
Das Besondere: Konzept und Angebote werden nicht nur von wissenschaftlichen und pädagogischen Beiräten erarbeitet und begleitet. Auch Eltern und auch und vor allem Jugendliche selbst sind daran beteiligt, das Programm stetig auszubauen und neue Perspektiven einzubringen. Tomoni bedeutet auf Japanisch „zusammen“. Und der Name ist Programm.
Das hat mich neugierig gemacht und um mich meinen Unsicherheiten und Sorgen zu stellen, habe ich am kostenlosen Online-Seminar „Pubertät. Oder mehr?“ teilgenommen. Mit einer gelungenen Mischung aus persönlicher Expertise, Empathie und persönlicher Erfahrung haben Alix Puhl und eine psychologische Psychotherapeutin durch das Seminar geführt. Ich habe viel gelernt und jede Menge praktischen Input mitgenommen.
Dass im Gehirn in Zeiten der Adoleszenz eine Menge los ist, ist klar.
Welches Ausmaß das Chaos im Kopf hat und welche genauen Vorgänge ihm Zugrunde liegen, war mir zum Beispiel jedoch nicht klar. Das pubertäre Gehirn ist wie ein Betriebssystem, das gerade ein riesiges Update erhält. Der Haken an der Sache: Das Update wird erst während des Installationsprozesses richtig entwickelt und zu allem Überfluss steckt der Manager, der sonst immer alles in ruhige Bahnen lenkt, gerade im Stau fest. So gibt es eine Menge toller neuer Funktionen, aber auch noch ganz schön viele Bugs, die erst nach und nach gefixt werden. Klingt chaotisch? Ist es auch.
Da sind also nicht nur die sichtbaren körperlichen Veränderungen und die Hormone, die gerade einen Rave feiern. Da werden im Kopf Synapsen abgebaut und neu gebildet. Das Dopaminsystem ist während der Pubertät besonders aktiv. Gefühle wie Freude, aber auch Trauer und Wut werden intensiver erlebt. Die Regulation von Stress und Emotionen muss damit ganz neu justiert werden. Dummerweise hinkt jedoch ausgerechnet der präfrontale Cortex in der Entwicklung hinterher. Der präfrontale Cortex ist der Bereich im Gehirn, der Kontrolle und Struktur ins Spiel bringt – um bei meinem Update-Vergleich zu bleiben: der Manager, der im Stau steckt.
Kein Wunder also, dass es zu impulsivem Verhalten, Stimmungsschwankungen, Null-Bock-Phasen und Konzentrationsproblemen kommt. Und wäre das alles nicht genug, verlernen Jugendliche das Mimik lesen. Wer einem Zehnjährigen Bilder von unterschiedlichen Gesichtsausdrücken zeigt, wird ziemlich adäquate Deutungen erhalten. Ab etwa dem 11. Lebensjahr nimmt die Fähigkeit, in Gesichtern lesen zu können, jedoch ab. Bis sie sich wieder eingestellt hat, ist das Kind vielleicht schon ausgezogen. Der Teenager, den ich gerade ob seines im Müll versinkenden Zimmers entsetzt anstarre, denkt also vielleicht, dass ich richtig gut drauf bin und reagiert entsprechend überrascht und verständnislos auf mein Gemecker.
Wissen weckt Verständnis.
Wer um das Chaos im Teenie-Hirn weiß, wer ahnt, wie anstrengend die Zeit der Pubertät ist, kann entsprechend agieren. Ob „nur“ pubertär oder psychisch erkrankt: Jugendliche brauchen Geduld, Verständnis und Verlässlichkeit. „Mich versteht ja sowieso keiner und ich mich selbst am allerwenigsten“. Auch, wenn es sich oft nicht so anfühlt, wir können etwas dagegensetzen. Machtkämpfe gehören jedoch nicht dazu.
Klare Kommunikation und Unterstützung anbieten ohne zu drängen hingegen schon. Und auch, wenn wir ollen Alten immer unwichtiger werden, wir sollten dennoch immer unsere Zuneigung zeigen. „Einen Kaktus umarmen“ nannte das die Psychologin im Tomoni-Seminar. Das müssen keine Umarmungen im wörtlichen Sinne sein. Zuneigung zeigen wir auch durch Präsenz und ehrliches Interesse. PC-Spiele haben mich noch nie hinterm Ofen hervorgelockt. Trotzdem könnte ich aus dem Stegreif einen mehrstündigen Vortrag über ‚Helldivers‘ und Co. halten. Denn mein Sohn liebt es und ich liebe ihn. Gespräche fallen den Pubertieren leichter, wenn sie nicht von Angesicht zu Angesicht stattfinden – nicht zuletzt wegen der Sache mit dem Mimik lesen bzw. dem eben nicht mehr Mimik lesen. Aktivitäten wie das gemeinsame Kochen oder Radfahren, bei denen Gespräche nebenbei entstehen können, sind daher ideal, um in Kontakt zu bleiben.
Das ist alles gut und schön, doch woher weiß ich nun, wann ich mir Sorgen machen sollte? Wann sind meine alltäglichen Bemühungen nicht mehr ausreichend und ich sollte einen Profi um Hilfe bitten? Die schlechte Nachricht: Das eine eindeutige Anzeichen gibt es nicht. Aber es gibt durchaus Warnsignale. Änderungen im Verhalten und in der Stimmung sind in der Pubertät bis zu einem bestimmten Grund normal und erwartbar. Ab einem bestimmten Ausmaß und einer bestimmten Dauer werden sie jedoch bedenklich. So können gravierende Verhaltensänderungen, die länger als zwei Wochen andauern, als ein ernstzunehmendes Anzeichen für eine psychische Erkrankung angesehen werden.
Auch eine Beeinträchtigung des Alltags ist ein Warnsignal. Können Körperhygiene oder der Gang zur Schule nicht mehr bewältigt werden, dann sollte man professionelle Hilfe in Betracht ziehen. Wichtig ist auch der Faktor Leidensdruck. Wenn wir merken, dass unser Kind selbst oder sein Umfeld unter einer bestimmten Veränderung leidet, sollten wir das nicht ignorieren. Besonders interessant fand ich dabei den Gedanken, dass bedenkliche Verhaltensänderungen in unterschiedliche Richtungen gehen können. Das Klischee vom psychisch kranken Jugendlichen ist der Teenie, der sich zurückzieht, sich isoliert, an nichts mehr Freude hat.
Aber abhängig von Charakter und Veranlagung kann immer auch das andere Extrem verdächtig sein. Wenn einer plötzlich nur noch außer Haus ist und alles tut, um beschäftigt zu bleiben, immer aufgekratzt und fröhlich ist, kann dies ebenfalls eine Reaktion auf ernste Probleme sein. Der eine vernachlässigt die Schule, die Noten fallen ab. Aber auch das Kind, das nur noch lernt und sauer wird, wenn es mal keine 1 schreibt, zeigt damit nicht unbedingt eine gesunde Reaktion auf Druck und Stress.
Was sonst noch bei mir hängen geblieben ist? Auch, wenn die Kinder selbständiger werden, muss man nicht alles alleine schaffen.
Und (professionelle) Hilfe anzunehmen ist auch jetzt niemals das Eingeständnis von Scheitern, sondern zeugt von Verantwortungsbewusstsein. Da sind wir wieder beim Dorf angekommen. Das will ich auch meinen Kindern mit auf den Weg geben und darum gehört die Nummer gegen Kummer genauso auf den Zettel am Kühlschrank wie die Nummer vom Hausarzt.
Eines kann ich festhalten: Das wird nicht mein letzter Besuch im Dorf von Tomoni gewesen sein. Als nächstes steht das Webinar „Das kleine 1 x 1 der psychischen Erkrankungen“ auf meiner Liste. Wer weiß – vielleicht trifft man sich dort ja…
Foto: Shutterstock
Liebe Claudia, vielen Dank für deinen interessanten Beitrag. Ich habe auch ein 15-jähriges Pubertier daheim und fühle mich oft allein gerade. Ich stimme dir vollkommen zu, dass es wenn die Kinder älter werden so wichtig ist, ein Dorf zu haben. Die Angebote von tomoni klingen super, da werde ich mich schnell mal zu einem Vortrag anmelden. Liebe Grüße Britta
Liebe Britta, der Artikel ist von Michaela, aber ich finde ihre Empfehlung auch super.
Danke für dein Feedback!
Ganz liebe Grüße,
Claudi
Liebe Michaela,
Danke für diesen so wertvollen Beitrag und den Kontakt zu tomoni!
Auch wir haben leider bereits mehrere Fälle von psychisch erkrankten Teenagern im Freundes- und Bekanntenkreis, die bis zum Suizid geführt haben und ich erlebe die Hilflosigkeit der Eltern/Familie, weil oftmals wirklich kompetente Ansprechpartner fehlen und man sich doch sehr alleine gelassen fühlt mit seinen Fragen, Ängsten und ja, auch der Verzweiflung.
Ich selbst habe ein Exemplar des “wortkargen Pubertier” hier zu Hause und gerade die oben genannten Erfahrungen lassen mich oft in seinen Augen noch anstrengender werden, weil ich versuche, den Kontakt zu ihm zu halten und “am Ball zu bleiben”.
Eine so fordernde Zeit, noch dazu, wenn sie mit den eigenen Wechseljahren und der Pflege der eigenen Eltern einhergeht – man müsste sich teilen können, um allen gerecht zu werden und selbst nicht auf der Strecke zu bleiben.
Bei tomoni werde ich auf jeden Fall mal vorbeigucken!
Liebe Grüße, Susanne