Ich war mir sicher, dass der Krebs noch einmal in mein Leben platzen wird.  Ich hatte nur irgendwie gedacht, er ließe mir noch mehr Zeit. So kommt es, dass ich im Frühsommer 2023 völlig perplex bin, als mir die Ärztin nach der Routine-Darmspiegelung sagt, sie hätte einen circa drei Zentimeter großen Tumor in meinem Dickdarm gefunden. Bösartig, natürlich – daran besteht für mich kein Zweifel…

Als ich das erste Mal die Diagnose Darmkrebs erhalte, bin ich 23, beim zweiten Mal 44.

Ich würde gern schreiben können, ich bin cool und ruhig geblieben, aber im vergangenen Juni muss ich im Arztzimmer erst einmal hemmungslos weinen. Es ist mir fast ein bisschen unangenehm, obwohl die Ärztin sehr nett ist und ich bestimmt auch nicht die einzige Patientin bin, die vor ihren Augen Rotz und Wasser heult.

Ich heule, weil ich schon weiß, was jetzt kommt: unzählige Untersuchungen, eine anstrengende OP, vielleicht im Anschluss eine Chemo. Ich heule vor allem, weil ich zwei Kinder habe, und ich noch nicht weiß, wie ich das in ihrem bisher sorglosen Alltag unterbringen soll. Krebs nimmt die Unbeschwertheit, das möchte ich für meine Kinder nicht.

Ich habe das Lynch-Syndrom, eine gar nicht mal so seltene genetische Disposition, ein Tumor-Risiko-Syndrom.

In Deutschland tragen bis zu 400000 Menschen diesen Defekt in sich, die wenigsten wissen davon. Beim Lynch-Syndrom gibt es einen Ausfall in den Reparaturgenen, Betroffene haben ein hohes Risiko – auch schon in jungen Jahren – an Darmkrebs zu erkranken. Aber auch das Risiko für eine Erkrankung anderer Organe, vor allem des Verdauungstraktes, ist erhöht, bei Frauen kommt es vermehrt zu Tumoren in der Gebärmutter, seltener an den Eierstöcken.

Wer das Lynch-Syndrom hat, sollte bereits in seinen 20ern mit der Vorsorge anfangen und regelmäßig zu Darm- und Magenspiegelungen gehen. Bei mir fällt das Gen MSH2 aus. Neben meinen braunen Haaren, kleinen Händen und einer Vorliebe für Fußball hat mir mein Vater auch das vererbt.

Als ich das erste Mal die Diagnose Darmkrebs erhalte, bin ich 23. Ich studiere im Ausland, ich bin fröhlich, ich rauche, ich trinke, ich gehe gern feiern. Aber in den rund sieben, acht Monaten vor meiner Diagnose im September 2002 merke ich, wie ich immer schlapper werde. Wenn ich einen Hügel hochgehen muss, japse ich wie nach einem 5-Kilometer-Lauf.

Meine Verdauung spielt verrückt, ich habe tagelang Verstopfungen, dazu kommen zwei, drei denkwürdige Episoden mit krampfartigen Bauchschmerzen. Am Ende des Sommers finden Ärzte einen sechs Zentimeter großen Tumor gleich neben meinem Blinddarm. Es ist eine surreale Zeit für mich. Ich werde operiert, mir wird ein großes Stück meines Dickdarms entfernt, dazu zahlreiche Lymphknoten um zu schauen, ob der Krebs gestreut hat.

Ein Lymphknoten enthält Krebszellen, also beginne ich nach der Operation eine Chemotherapie.

Zum Glück vertrage ich die Chemo relativ gut, so dass ich einen Monat später wieder mein Studium aufnehmen kann. Jeden Mittwoch fahre ich von nun an morgens ins Krankenhaus und bekomme eine Spritze. Das kalte Gefühl der Flüssigkeit, die sich in meinem Handrücken ausbreitet, der metallene Geschmack im Mund, die aufsteigende Übelkeit im Bauch – das Chemogefühl kann ich noch heute 1 zu 1 abrufen. Nach der Spritze fahre ich an die Uni und setze mich in meine Vorlesung.

Als ich das zweite Mal die Diagnose Darmkrebs erhalte, bin ich 44, und vor allem auch so perplex, weil ich wirklich dachte, ich sei gesund. Weil ich immer geglaubt habe, wenn der Krebs wiederkommt, dann merke ich das. Weil ich ja weiß, wie es sich anfühlt.

Und weil ich 20 Jahre lang regelmäßig zu meinen Darmspiegelungen gegangen bin und nie etwas hatte. Noch nicht mal einen Polypen. Aber dieser Tumor hat noch keine Probleme gemacht, keine Verstopfung, keine Bauchschmerzen. Ich bin fit und doch krank. Vier Wochen später werde ich operiert. Zum Glück sind diesmal keine Lymphknoten befallen, die Operation alleine reicht aus.

Nach dem Krankenhaus brauche ich Monate, um mich wieder wie ich zu fühlen.

Mein Darm ist noch ein großes Stückchen kürzer, Durchfall an der Tagesordnung. Ich muss schauen was ich essen kann und was nicht. Manche Tage sind gut, die meisten mäßig und ziemlich viele Tage sind ziemlich beschissen.

Am allermeisten nervt mich die Angst, die mich seit der zweiten Diagnose lange im Griff hat. Angst vor dem nächsten Tumor, Angst vor Schmerzen, Leid und dem Tod, davor, dass ich meine Kinder viel zu früh alleine lassen muss. Es gibt Tage, da zwinge ich mich mantraartig zum ruhigen Durchatmen. Und dabei bin ich eigentlich ein recht angstfreier Mensch.

Was die zweite Diagnose aber vor allem von der ersten unterscheidet, sind natürlich meine Kinder. Nichts ist mir wichtiger als ihr Wohlergehen. Von meinem ersten Tumor wissen sie, vom zweiten nicht. So lange wie ich es kann, werde ich ihre Sorglosigkeit erhalten, zeitlich begrenzt ist sie eh: In drei Jahren werde ich mein erstes Kind testen lassen müssen, dann wissen wir, ob ich das Lynch-Syndrom vererbt habe.

Wenn ja, steht die erste Darmspiegelung an.

Jeder Betroffene hat seinen eigenen Weg, mit Krebs umzugehen, was mir mit 23 genauso geholfen hat wie mit 44: mein Wille zur Normalität. Alltag ist meine Heilung. Ich akzeptiere die Krankheit, was bleibt auch sonst, aber der Krebs diktiert mir nicht mein Leben. Das, was ich machen möchte, mache ich, irgendwas geht immer.

Die Krankheit ist zwar da, aber sie kriegt keinen Platz in meiner ersten Reihe. Die Macht über mein Leben behalte immer noch ich. Jetzt, mehr als ein Jahr nach der zweiten Diagnose, geht es mir richtig gut. Ich bin froh und dankbar, dass ich gesund bin. Das ist so ein großes Geschenk.

Für die Zukunft bin ich guter Dinge.

In der Medizin ist grad viel in Bewegung, es werden Impfungen entwickelt, neue Therapien. In der Regel sprechen Lynch-Syndrom-Patienten gut auf Immuntherapien an, so können Tumore mitunter im Wachstum gestoppt werden, wenn sie nicht sogar verschwinden. Sollten meine Kinder meinen Defekt geerbt haben, werden sie vielleicht ganz anders behandelt als ich.

Wichtig ist mir zu sagen: Krebs ist eine Krankheit, die in vielen vielen Fällen heilbar ist, wenn sie frühzeitig entdeckt wird. Darmkrebs, da gut operabel, sowieso. Wer Veränderungen in seinem Stuhlgang feststellt, Blut im Stuhl findet, regelmäßig unter krampfartigem Bauchschmerzen leidet: ab zum Arzt.

Vorsorge rettet Leben. Auch ein Blick in den eigenen Stammbaum kann helfen. Wer mehrere Krebserkrankungen in seiner Familie hat, der tut gut daran, sich hinsichtlich einer genetischen Testung beraten zu lassen. Dann platzt der Krebs vielleicht immer noch ins Leben hinein – aber das dann zumindest mit Ansage.

PS. Gute und aktuellste Infos zu Krebs gibt es unter www.krebsinformationsdienst.de. Zu Darmkrebs im allgemeinen ist man unter www.darmkrebs.de gut beraten, Lynch-Syndrom-Betroffene finden unter www.semicolon.de Infos sowie Ansprechpartner und am Uniklinikum Bonn findet man das Nationale Zentrum für erbliche Tumorerkrankungen, wo Betroffene kompetent beraten und behandelt werden: www.nzet.de.

Foto: Shutterstock

Mira