Wo fang ich an? Ich bin in der DDR geboren, an einem Valentinstag. Meine Mutter wusste nicht, dass es der Valentinstag ist, sonst hätte sie mich Valentina genannt. Ich wurde eine Stephanie. Stephanie war in meinem Geburtsjahr 1981 Platz 1 der Mädchennamen. Meine Geschichte ist dagegen einzigartig…

Meine ersten drei Jahre Grundschule waren furchtbar. Ich hatte wahnsinnige Angst vor dem Sportunterricht. Ich war klein und zierlich und wollte nicht über Böcke und Kästen springen. Ich hatte Alpträume davon. 1990 dann, als die Wende war, ergriff meine Mutter sofort die Chance und schloss sich einer Gruppe von Waldorf-Eltern an. Ich war dann in meiner Heimatstadt Halle in einer der ersten Waldorfschulen Ostdeutschlands. Zum Glück.

Wir spulen vor. Realschulabschluss, dann Abitur. Ich wollte Literaturwissenschaften studieren, aber meine Eltern hielten das für eine weniger gute Idee. Sie meinten, mit einem Diplom in Literatur würde ich wenn überhaupt erst mit 45 ne halbe Stelle in einem Museum kriegen.

Vielleicht hatten sie recht, vielleicht nicht.

Ich studierte auf ihren Rat hin Kommunikation und technische Dokumentation mit der Spezialisierung auf Technik-Illustration. Als ich damit fertig war, wusste ich, dass ich diesen Job nur aushalten würde, wenn ich Abwechslung rein brächte. Also machte ich mich selbstständig und arbeitete als freie technische Redakteurin.

Relativ bald bekam ich einen Auftrag als Autorin für ein e-Learning und blieb dabei. Ich arbeitete für große Unternehmen und das lief viele Jahre gut. Ich wurde währenddessen Mutter von einem Sohn mit 27, von einem zweiten mit 29 und dann von einem Mädchen mit 33.

Als der Babystress weniger wurde, spürte ich, dass mir meine Arbeit zu eintönig wurde.

Möglicherweise in einem Akt der Verzweiflung meldete ich mich Ende 2017 bei Instagram an. Ich postete zuerst winzige Collagen. Stoff auf Papier genäht, mit kleinen Zeichnungen, manchmal baute ich kleine Animationen ein.

Ich machte das eine ganze Weile täglich und merkte einerseits, wie gut das tat, aber auch wie sehr mir das Kreative, das Künstlerische, das Poetische in meinem Job fehlte.

Die Collagen wurden zu Linolschnitten. Die Grafiken größer, aber ich fragte mich trotzdem immer wieder, warum ich das machte. Auf Instagram aktiv zu sein, bedeutet viel Zeit dafür aufzubringen, ich hatte aber genug zu tun mit drei kleinen Kindern und meinem Job. Immer wieder kam mir das Ganze auch sinnlos vor. Außerdem hatte ich ständig das Gefühl, dass ich nicht gut genug sei. Ich war schließlich nur technische Redakteurin – keine Künstlerin.

Dann hatte meine Tochter 2018 einen Fieberkrampf.

Ich glaube dieses Ereignis hat mir zehn Jahre meines Lebens genommen. Ich fühlte mich Schachmatt. Job grau, Kinderstress, Leidenschaft, aber vermutlich zu wenig Talent für echte Kunst.

Nur eine Woche später schrieb mir ein Typ aus New York, ein Architekt, und meinte, er würde gern Druckgrafiken von mir kaufen. Echt jetzt? Ich hielt das für Betrug. Dennoch fragte ich ihn,  wie viele Grafiken er haben wollen würde.

Er meinte 15. Die ersten 15 Stück in meinem Profil.
Ein Wendepunkt in Instagram.

Zumal sich herausstellte, dass es sich bei diesem Typ aus New York, nicht nur um einen bereits pensionierten Architekt handelte, sondern dieser auch ehrenamtlich im Museum of Modern Art arbeitete. Ich weiß bis heute nicht, ob er da nur Karten abreißt oder aufpasst, dass niemand etwas klaut, aber für mich war plötzlich klar, dass es da draußen Menschen gibt, die einen Sinn für Kunst haben, vielleicht sogar über entsprechenden Sachverstand verfügen und mögen, was ICH tue.

Ich wagte mich weiter vor und nahm einen Pinsel in die Hand. Ich begann Portraits zu malen. Die waren anfangs noch ziemlich ungelenk und nicht besonders ausgereift, aber ich malte und malte und malte. Ein Portrait nach dem anderen. Ich schlug mir unzählige Nächte um die Ohren.

Doch dann im April 2019 brach plötzlich erneut der Himmel über uns zusammen.

Diesmal mit deutlich mehr Wumms, als beim Fieberkrampf. Unsere Tochter sah schlecht aus, hatte ständig Durst, war schwächlich. Eines nachts trank sie eine ganze Flasche Wasser und war alle halbe Stunde auf der Toilette. Ich besorgte einen Urinteststreifen am Morgen danach und der verfärbte sich beim Test direkt dunkelblau. Unser kleines fünfjähriges Mädchen hatte Diabetes 1.

Die nächsten Wochen im Krankenhaus gehörten zu den schlimmsten meines Lebens. Jede Stunde wurde bei unserer Tochter Blutzucker gemessen, auch nachts. Nach 24 Stunden waren bereits alle kleinen Fingerkuppen knallrot und wir wussten gar nicht, wo wir noch hinstechen sollten. Nach jedem neuen Stechen schrie und weinte unsere Tochter, und wenn sie sich endlich beruhigt hatte, kam schon wieder jemand und stach in einen anderen Finger. Es war einfach nur furchtbar.

Plötzlich saß ich da und hatte ein kleines Mädchen, das ohne die Gabe von Insulin innerhalb weniger Wochen sterben würde. Die Ärzte fragten uns, ob etwas geschehen sei. Manchmal würde einem Diabetes ein erschütterndes Ereignis vorausgehen. Die Scheidung der Eltern oder etwas Ähnliches. Meist läge dies etwa ein Jahr zurück… Ich weiß nicht, ob das wissenschaftlich erwiesen ist. Ich wusste nur eins.

Ich hatte ein Jahr zuvor angefangen zu malen…

Als wir den ersten Schock verdaut hatten, fingen wir an, uns mit dem Krankheitsbild des Diabetes zu beschäftigen. Ernährung, ganzheitliche Ansätze usw.
Eine alte Schulfreundin von mir beriet uns in Sachen antientzündlicher Nahrung, legte uns dann aber noch kurz bevor wir gingen einen dicken Wälzer auf den Tisch. Ein Buch über Krankheiten und deren mögliche psychische Bedeutung. Es ersetzt garantiert keine schulmedizinische Therapie, mir hat es geholfen.

Beim Diabetes 1 stand geschrieben, dass die Erkrankten die Süße des Lebens, die Liebe, nicht aufnehmen könnten. Das Buch schlug vor, dass die Erkrankten zur Harmonisierung folgende Affirmation sprechen sollten: Meine Mama liebt mich, mein Papa liebt mich, die Welt liebt mich.

Ich wollte es versuchen und bat unsere Tochter, mir das einmal nachzusprechen. Sie sagte, dass sie das nicht mache. Ich fragte sie, warum, und ihre Antwort werde ich nie vergessen. Sie sagte: „Ich kann das nicht sagen, weil es nicht stimmt.“

In diesem Augenblick begann in mir die Suche nach dem Sinn hinter allem.

Wir fuhren im Sommer nach der Diagnose nach Schottland in ein Airbnb einer Buddhistin. Sie meinte, ihr Ort wäre ein Healing Place. Das brauchten wir. Dort erlitt ich zum ersten und zum Glück einzigen Mal eine Panikattacke…denn natürlich kann man wegfahren, aber die eigenen Probleme kommen einfach mit.

In den grünen Hügeln begann ich unser ganzes Leben zu hinterfragen. Ich fragte mich, ob ich vielleicht einfach nur das Leben meiner Mutter lebte. So wie sie es mir vorgemacht hatte, ohne böse Absicht natürlich. Aber ich fragte mich auch, ob das wirklich meins war.

Meine Mutter unterstützt uns, oft auch finanziell.

Sie war sehr erfolgreich in ihrem Job, hat sich mit meinem Bruder und mir viel Mühe gegeben, aber sie hat auch sehr viel gearbeitet. Oft über ihre körperlichen Grenzen hinweg. Mir wurde bewusst, dass ich das nicht wollte.

Auch hat sie uns unheimlich stark auf Bescheidenheit erzogen. So weit, dass man Erfolge eigentlich kaum feiern darf, weil das zu übermütig sei. Sie hatte in mir, unbeabsichtigt natürlich, eine Idee gepflanzt, nach welcher ich für zu viel Freude und Überschwang sogar bestraft werde..vom Leben, vom Schicksal, von wem auch immer.

Hatte ich zu viel Freude beim Malen und damit mein Mädchen krank gemacht? Natürlich nicht, das ist mir schon klar, aber naja…Verstand und Gefühl gehen selten Hand in Hand.

Unsere schottische Buddhistin empfahl mir jedenfalls ein Buch über eine buddhistische Praxis, nach welcher man seine eigenen Dämonen füttern sollte. Ich las das Buch und wollte das unbedingt ausprobieren. Den Dämon des Diabetes fand ich für den ersten Gang zu gewaltig, also wählte ich den Dämon der Respektlosigkeit gegenüber mit selbst als Künstlerin.

Ich konnte mich nämlich auch nach dem Verkauf nach NY noch immer nicht als Künstlerin bezeichnen.

Ich stellte mich diesem Dämon. Er hatte in meiner Vorstellung die Gestalt eines verrotteten Baumstamms, ohne Blätter. Er meinte, er wolle nichts von mir, ich sei zu klein und unbedeutend. Ich versuchte mich also innerlich aufzurichten und dann nach einer Weile verschwand der Dämon.

An seine Stelle trat eine Art Mönch, mit Kapuze. Ich konnte das Gesicht nicht sehen. Doch ich erkannte an den Händen, dass es eine Frau war. Diese Frau hielt mir eine frische Pflanze entgegen, einen winzigen Baum. Ich fragte sie, entsprechend der Anleitung, wie sie mir helfen könnte. Wie sie mich unterstützen könnte. Ihre Antwort war: Male mich, wann immer du meine Hilfe brauchst.


Ich hatte meine Augen geschlossen, unsere Tochter schlief neben mir und ich ließ das alles auf mich wirken. Und dann geschah etwas Seltsames. In meiner Vorstellung stiegen plötzlich alle Frauen, die ich bisher gemalt hatte aus ihren Bildern heraus. Sie reihten sich hinter mir auf und bildeten eine Armee. Sie waren bereit mich zu verteidigen.

So hatte ich meine Portraits vorher noch nie gesehen. Ich hatte immer angenommen, ich würde Frauen malen, weil ich selbst eine bin, weil ich Paula Modersohn-Beckers Bilder mochte.
Diese Erkenntnis der Armee war regelrecht erschreckend und deshalb hatte ich das auch lang niemandem erzählt. Ich befürchtete, dass alle glauben würden, ich wäre verrückt…

Irgendwann später erzählte ich diese Story auf Instagram und inzwischen sind meine Bilder im Original oder als Druck in 18 Ländern und allein in 27 Staaten der USA zu finden.

Vor etwa zweieinhalb Jahren begann ich im Namen meiner Portraits zusätzlich Love Letter per e-Mail zu verschicken. Der Love Letter eines Bildes wurde ein Chatverlauf zwischen der Frau auf dem Bild und einem Typ, Jacob. Es ging um Regeln in Beziehungen. Darum, dass Liebe zwar bedingungslos ist, Beziehungen aber nicht.

Die Unterhaltung, diese beiden Charaktere ließen mich nicht mehr los und so entstand kurz darauf mein Liebesroman, „Das rote Vogelmädchen“. Er spielt im Dezember. Man kann ihn lesen, wie einen Adventskalender. Bene (der weibliche Hauptcharakter) schenkt ihrem Freund einen Adventskalender. In diesem stecken Tagebucheinträge, die davon erzählen, wie sich die beiden kennenlernten. Man schaut also zurück und erfährt so vom ersten Blick, dem ersten Kuss, der ersten gemeinsamen Nacht…

Doch die beiden begegnen auch ihren eigenen Dämonen.

Ich hoffe, dass mein Buch seinen LeserInnen gute Gefühle schenkt. Dass man über weite Strecken des Buches das Gefühl hat, frisch verliebt zu sein.

Für das rote Vogelmädchen fand ich lange keinen Verlag und bastelte zwischendurch kleine rote Tauben aus Papier. In diesem Frühjahr, auf dem female business festival in München, fand ich schließlich eine Verlegerin, zwar ohne Vogel, doch sie sind mir dennoch geblieben. Ich habe gerade mehr als 20 in die Welt geschickt zu Freunden, Künstlern, die ich über Instagram kennengelernt habe.

Denn Jacob (der männliche Hauptcharakter) ist Künstler. Kunst verbindet uns, Zweifel auch. Meine rote Taube als Zeichen für Frieden. Diese Künstler machen seither an ihren Wohnorten Fotos für mich mit der roten Papiertaube in der Hand. Wir sind alle verbunden durch unsere Liebe zur Kunst und das über Landesgrenzen, über Religionen, Geschlechter hinweg.

Ich habe es zu Anfang erwähnt, ich bin an einem Valentinstag geboren und das nehme ich als Aufgabe für mich an. Ich möchte mit meinen Bildern, mit meinen Geschichten, mit allem was ich tue, Liebe verbreiten…vielleicht auch, weil es das ist, was meiner Tochter so schwer fällt für sich anzunehmen. Was vielen von uns schwerfällt.

Der Diabetes hat uns viel Leichtigkeit genommen, aber er hat uns auch geweckt. Er hat mich meine Kunst ernst nehmen lassen. Hat mich ein Buch schreiben lassen. Er lässt mich mutiger sein und das Leben wertschätzen. Jeden einzelnen Moment.

Mein Buch gibt’s zum Beispiel hier.

Ganz viele Grüße aus Halle,

Stephanie