Kürzlich kam ich ins Zimmer meines Jüngsten, der auf dem Bett saß und – und las. Also buchstäblich. Nicht ein Bilderbuch durchblätterte und sich die Geschichte selbst erzählte, nein: Er fuhr mit den Fingern die Großbuchstaben in Claudis “Schwups”-Buch nach und lautierte langsam “WAAAAAAHHHH”. Ich war völlig überrumpelt, weil: Ich hatte ihm das nicht beigebracht. Wie ich sowieso immer überrumpelt bin, welche Skills mein Sechsjähriger plötzlich hat – den Weg dahin habe ich nämlich meist verpasst…

Letzte Kinder sind irgendwie ein Phänomen: Laufen meist unter dem Radar – das aber in einem Höllentempo! Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern, dass seine beiden großen Geschwister schon vor Start der ersten Klasse Buchstaben aneinandergereiht hätten.

Obwohl mein Jüngster die wenigste Aufmerksamkeit bekommt, macht er in Sachen Entwicklung am meisten Strecke.

Und dass mit einem fröhlichen Selbstverständnis, von dem ich auch oft gern eine Portion mehr hätte. Vielleicht liegt es daran, dass nicht wir Eltern ihn großziehen, sondern in Wahrheit seine älteren Geschwister. Dass wir ihm nicht dazwischenfunken – in sein Tempo, seine Talente, seinen Tatendrang. Nicht aus Konzept, sondern meist aus mangelnden Kapazitäten. Es scheint ihm nicht zu schaden – im Gegenteil.

Klar plagt mich mitunter das schlechte Gewissen: Dass er im Vergleich so viel weniger elterliche Zuwendung bekommt als die beiden Älteren. Als sein großer Bruder sechs war, hatte ich dem schon die halbe Astrid-Lindgren-Bibliothek vorgelesen und im Zweifel sogar den ersten “Harry Potter”-Band. Mit dem Jüngsten bin ich noch nie über die ersten 30 Seiten eines Buches hinweggekommen. Auch das kratzt ihn nicht besonders – “Nö, Mama, du musst mir nicht vorlesen – ich mach das schon selbst”, sagte er kürzlich. Offenbar meinte er das ganz wörtlich.

Der Mangel an Aufmerksamkeit scheint mir eher ein Geschenk.

Weil er so unbeirrt seinen eigenen Weg gehen kann, ohne Eltern, die ihn ebnen oder in eine andere Richtung lenken. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mir wünschte, alle meine Kinder wären so groß geworden. Mittlerweile denke ich, dass zu viel Aufmerksamkeit der kindlichen Entwicklung eher im Weg steht, als sie zu fördern, was ja die eigentliche Intention ist.

Manchmal sehe ich meinen Jüngsten nur vor der Schule und dann wieder zum Abendbrot, weil er zwischendurch bei diversen Freunden Zeit verbringt. Die Verabredungen trifft er meist ohne mein Zutun, klar. Und am Ende so einer Woche sehe ich ihn an und denke, was für einen Sprung er schon wieder gemacht hat. Und bin so verdammt stolz auf dieses, meine Kind, dass so eigen und so selbständig ist – und dabei so glücklich.

Denn auch wenn er nicht permanent im Fokus steht – Liebe bekommt er im Überfluss.

Vermutlich knuddle und knutsch ich keines meiner Kinder so häufig wie ihn. Und wenn’s nicht reicht, holt er sich, was er braucht: Er kommt verlässlich jede Nacht zwischen drei und fünf Uhr morgens ins elterliche Bett krabbelt, um sich eine Extraportion Nähe abzuholen. Die ihn dann am nächsten Tag wieder in die größtmögliche Unabhängigkeit eines Sechsjährigen entlässt.

Übrigens spielt er seit ein paar Tagen auch schon die ersten Melodien auf dem Klavier, dabei hatte er noch nie Unterricht. Dafür eine große Schwester, die ihm den Glockenklang von Big Ben ein paar Mal auf den Tasten vorgeklimpert hat – und jetzt beherrscht er sie auch. Nachahmung ist vermutlich die größte Kunstfertigkeit, die die Jüngsten in der Familie beherrschen müssen. Er hat sie perfektioniert. Natürlich konnte er auch schon mit vier eine Salto auf dem Trampolin…

Kennt ihr das auch von euren jüngsten Kindern…? Hier habe ich schon übrigens mal über meinen Jüngsten geschrieben: Das letzte Kind hat ein dickes Fell

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Alles Liebe,

Katia