Es war hier im Ferienhaus wie überall. Als erstes kletterte mindestens einer aufs Bett und hopste, dann piepste unten die Waschmaschine, weil ein kleiner Finger sie gedrückt hatte – und schließlich flog mir im Wohnzimmer ein Kissen und eine Kerze von der Fensterbank entgegen. Zum Glück hatte ich vor kurzem mit Sandra Winkler gesprochen, die gerade ein wunderbares Buch darüber geschrieben hat, warum Kinder genau so nun mal ticken. Und dass das auch seine guten Gründe hat…

Die zweifache Mama Sandra schreibt in dem Buch darüber, warum Kinder Brokkoli eklig finden, plötzlich Angst vor Fremden haben und warum sie so gern verstecken spielen  – und warum sie trotzdem so verdammt schlecht darin sind. Sandra verpackt Erkenntnisse aus Psychologie, Neurologie und Entwicklungspädiatrie absolut unterhaltsam, lässt uns unsere Kinder besser verstehen und öffnet uns die Augen für all das Wunderbare an ihnen. Wir dürfen tollerweise hier drei (gekürzte) Kapitel aus ihrem Buch (mit meinen brennendsten Fragen!) vorab lesen… Sandras Kinderverstehbuch gibt’s unter anderem hier.

Warum muss auf Matratzen immer erst einmal gehüpft werden?
Ein Bett! Nichts wie rauf da! Hüpf, hüpf, hüpf. Und dort, eine Couch! Volle Sprungkraft voraus. Boing, boing, boing. Das Kind springt nach oben, die Wangen und der Magen ziehen nach unten. Das Kind lässt sich fallen, Wangen und Magen wandern in die andere Richtung. Die Haare fliegen! Jeder nachgiebige Untergrund flüstert Kindern wortlos zu: »Komm, probier mich aus! Wag es! Wir können bestimmt viel Spaß miteinander haben.« Und da für jemanden, dessen Alter den einstelligen Bereich noch nicht überschritten hat, das ganze Leben eine Herausforderung ist, muss er fast zwanghaft jede Couch und jedes Bett ausprobieren. Beim Springen spüren Menschen Leichtigkeit – auch Erwachsene, die sich ja nur noch seltendazu hinreißen lassen. Schade, denn sie verpassen einen kurzen Moment der Schwerelosigkeit, bei dem es sich anfühlt, als würde selbst das Gehirn einen Hüpfer wagen.

Beim Sprung-Spektakel wird zudem das Glückshormon Serotonin ausgeschüttet. Kinder springen sich glücklich – und springen vor Glück. Denn bis sie etwa sechs Jahren alt sind, drücken sie ihre Gefühle oft direkt mit dem Körper aus, sie stampfen vor Wut mit den Füßen oder machen eben Luftsprünge vor Freude.

Außerdem ist es für sie immer noch etwas Besonderes, überhaupt springen zu können. Hüpfen, egal ob auf Bett, Couch oder einem Bein, haben sie erst vor Kurzem gelernt. Es erfordert Koordination, Gleichgewicht, Ausdauer. Die Entwicklung geht sprunghaft: Etwa zwischen dem 16. und 22. Monat können Kinder mit beiden Beinen gleich- zeitig vom Boden abheben und standfest wieder landen. Mit gut drei Jahren springen sie von der untersten Treppenstufe, mit vier beidbeinig circa 30 Zentimeter nach vorne. Bis zur Einschulung beherrschen sie die wichtigsten motorischen Fähigkeiten, die sie trainieren und verfeinern, indem sie immer weiter und höher springen. Wahnsinn, wie gut das klappt! Das muss man doch gleich und immer wieder ausprobieren.

Warum drücken Kinder so gern Knöpfe?
Wenn Kinder etwas wirklich wollen, geben sie alles. Die beiden Jungs, der eine klein, der andere noch kleiner, rannten mich fast um, als sie an mir vorbei zum Fahrstuhl spurteten. Dabei schrien sie aus Leibeskräften: »Iiiiiiiich!«, als hätte gerade jemand am anderen Ende des Hotelflurs gefragt, wer ein ganzes Glas Schokocreme auslecken möchte. Der Große erreichte den Aufzug zuerst – und drückte den Knopf. Der Kleine brach daraufhin auf der Auslegware zusammen. Er konnte sich erst wieder beruhigen, als der hinterhergeeilte Vater versprach: »Du darfst drinnen drücken.«

Kinder lieben es, Knöpfe zu betätigen, nicht nur am Fahrstuhl, sondern auch im Bus, am Küchenmixer, an der Waschmaschine, auf der Fernbedienung. Die kleinen runden Dinger haben auf sie eine so magische Anziehungskraft wie der Zauberring auf Gollum. Auch jeder Schalter, der ihnen unter die Finger kommt, muss unverzüglich umgelegt werden. Man kennt das: Licht an, Licht aus – bis die Birne oder der Kragen der Eltern platzt. Dabei müssen Erwachsene verstehen: Für die Kleinen hat das, was sie da tun, eine essenzielle Bedeutung. Drücken sie einen Knopf, erklingt ein Ton oder ein Licht geht an. Im besten Falle sogar beides. Und auch wenn es sich pathetisch anhört: Dabei spürt ein Kind seine Wirksamkeit. Es kann der Auslöser von etwas sein, es nimmt Einfluss auf seine Umwelt.

Und das ist für jedes Kind faszinierend! Vor allem, wenn man bedenkt, dass ein Baby, wenn es auf die Welt kommt, zunächst gar nicht weiß, dass es überhaupt handeln kann. Es kann sich noch kein Bild von sich als Person machen. In den ersten Wochen weiß es nicht einmal, dass es Körperteile hat, und erschrickt, wenn plötzlich die eigene Hand vor seinem Gesicht auftaucht: »Was ist das denn?!« Erst langsam lernen Säuglinge ihren Körper durch Betrachten und Betasten kennen. Sie begreifen, dass Hände und Füße Teile von ihnen sind, die sie aktiv bewegen und sogar gezielt einsetzen können. Das Baby ist dann hellauf begeistert, dass es etwas aus eigener Kraft auslösen kann.

Warum schmeißen Kinder alles runter?
Früher dachte man, Babys seien in den ersten Monaten schlichtweg dumm. Unfertige Erwachsene eben. Die neuere Säuglingsforschung geht aber davon aus, dass mehr logisches Denken in den kleinen Köpfen steckt als vermutet und dass Babys bereits in den ersten Monaten ein naturwissenschaftliches Verständnis haben. Forschungsteams beobachteten, dass die Kleinen länger auf Autos starrten, die wider Erwarten (durch einen Trick) durch Wände fahren konnten. Oder die Kleinen wunderten sich, wenn ein Ball, der präpariert wurde, aus einer geöffneten Hand nicht zu Boden fiel. Eine gewisse Vorstellung davon, was Statistik, Schwerkraft, Bewegungsbahnen sind, müssen sie demnach haben, sogar schon bevor sie selbst mit gezielten Experimenten beginnen. Unterschätzen Sie also nie ein Baby.

Einen Gegenstand zu werfen oder ihn fallen zu lassen, bedeutet für ein Kind, das zwischen sechs und 18 Monaten alt ist, die Welt zu erkunden. Wie ein Alien, der gerade auf der Erde gelandet ist, muss es herausfinden, wie sich die Dinge um es herum verhalten. Es ist für ein Baby eine hochinteressante Erkenntnis, dass zum Beispiel ein Karottenstück nicht schwebt oder aufsteigt, wenn man es loslässt – und dass es beim Herunterfallen nicht matschig am Boden klebt, scheppernd zerbricht oder rasant durch die Küche rollt. Deshalb thront es in seinem Kinderstuhl und schubst immer und immer wieder die Milchflasche über den Tischrand oder wirft eine Rassel im hohen Bogen aus der Karre. Mal feuern Mini-Newton und Baby-Curie ein Ding aus der Faust ab, mal lassen sie ein Testobjekt aus dem Zweifingergriff fallen oder kippen es sanft aus der Handfläche. Was dann passiert, muss immer wieder aufs Neue überprüft werden. Wer weiß, vielleicht ist das, was man gestern gesehen hat, inzwischen gar nicht mehr aktuell. Ob die Erdanziehung wohl auch heute noch funktioniert?

Später, wenn die Kinder in der Schule Physik und Chemie abwählen, sobald es möglich ist, wären wir froh über so viel unbändigen Forschungsdrang. Also los! Nicht dem Kind entnervt das Wegwerfmaterial aus den Händchen reißen, sondern am besten immer wieder neues anreichen. Vielleicht nicht das Meißner Porzellan. Aber auch mal Erbsenpüree.

Spannend, oder? 

Liebe Grüße,

Claudi