Ein August-Sonntag. Sechs Uhr morgens. In einem weißen Mehrfamilienhaus in Fulda wird noch geschlafen. Vielleicht taumelt einer erst jetzt von einer Party durchs Treppenhaus in sein Bett. Vielleicht trippelt ein Kind über den Dielenboden. Bei Katharina Weinand im dritten Stock platzt die Fruchtblase. Ihr Freund Stephan ist nervös, für ihn ist es das erste Kind. Im Wohnzimmer wärmt die Sonne das graue Sofa. Katharina greift zum Telefon. Sie ruft kein Taxi. Sie ruft die Hebamme: Ihr Baby soll zu Hause geboren werden…
Hausgeburt, Hebamme, Wehen veratmen
Ist das mutig? Ein Bekannter, ein Chefarzt, hätte heftig mit dem Kopf geschüttelt. “Nicht mutig. Leichtsinnig.” Katharina findet sich nicht mutig. “Ich hatte überhaupt keine Angst”, sagt die 37jährige, “in einer Klinik, da hätte ich Angst gehabt.” Katharina kennt die Kliniken, die Kreißsääle. Hat auch schon hinter den Kulissen geguckt. Sie arbeitet für Milupa, besucht regelmäßig Hebammen in den Krankenhäusern, sitzt mit ihnen da, bei einem Kaffee, spricht über Babyprodukte – und über die Arbeit. Bekommt mit “was da so alles passiert im Krankenhaus”. Kostendruck. Schichtwechsel. Zu wenig Personal. Eine Hebamme für drei Geburten. “Da hätte ich Angst gehabt”, sagt Katharina. “Bei mir war die Hebamme die ganze Zeit bei mir.”

Ihr erstes Kind hat Katharina vor sieben Jahren im Geburtshaus bekommen. Ihr damaliger Mann fand das gut. Auch ihr jetziger Freund Stephan steht in Sachen Hausgeburt voll hinter ihr. “Du kriegst das Kind, du entscheidest!”, fand er. An diesem Morgen zündet Stephan morgens um sechs ein paar Kerzen an, legt Entspannungsmusik ein. Alles ist ruhig und friedlich. Die große Tochter Emma, sieben Jahre, wollte in dieser Nacht zufällig bei Oma und Opa schlafen. Das macht sie sonst nie. “Das sollte alles so sein”, glaubt Katharina. Sie verschwindet nochmal im Bad. Lieblingspuder auflegen. “Ist doch nicht schön, diese blassen Fotos der frischentbundenen Mamas,” findet sie und grinst.

Acht Uhr. Unten im Treppenhaus klappert die Eingangstür, vielleicht holt jemand Brötchen. Ganz bestimmt wird irgendwo gelesen, ein Kinderbuch laut, oder eine Zeitung, gemütlich im Bett, ganz leise. Im dritten Stock wird laut geatmet. Katharina veratmet Wehen. Sie geht herum, vom Wohnzimmer ins Bad und zurück. Die Hebamme immer neben ihr, sie ist schon lange da. Das graue Sofa im Wohnzimmer sieht anders aus jetzt. Stephan hat Malerplanen aus dem Baumarkt darüber ausgebreitet und diese wasserfesten Unterlagen, die man kleinen Kind ins Bett legt. An einer Seite hat er sich besonders viel Mühe gegeben und über die Folie noch ein weiches Spannbettlaken gezogen – hier soll später das Baby geboren werden. Immer wieder überprüft die Hebamme die Herztöne. Das CTG-Gerät hat sie dafür mitgebracht. Sie möchte wissen, ob das Baby die Wehen gut verträgt. Die Hebamme trägt die Werte per Hand in eine Tabelle ein.
Hausgeburt
Später läuft Stephan rüber zum Lieblingsbäcker, Croissants holen für Katharina, die mag sie so gern. Und Schnittchen schmieren für sich und die Hebamme. Es ist zehn, vielleicht plingt in der Wohnung darunter gerade der Toaster. Bestimmt duscht jemand. Und ganz sicher flitzt irgendwo über oder unten ihnen ein Kind im Sauseschritt über den Flur. Bei Katharina geht es nict voran. “Wir haben gegessen und erzählt, zwischendurch habe ich Wehen veratmet.” Die Sonne scheint durchs Wohnzmmerfenster, es wird wieder heiß werden. Katharina bekommt von all dem nicht viel mit. “Ich war da ganz bei mir. Hab mich nur auf mich konzentriert. Ich wusste ja, ich muss da durch. Ich allein. Wir hatten ja kein Schmerzmittel da.”

Hebamme Karin erzählt zwischendurch von ihrer Arbeit. Sie macht nur noch Hausgeburten, als einzige im Raum Fulda. Sie hat so viele Frauen, dass sie die hohen Versicherungen gerade wuppen kann. Sie ist alleinerziehend. Früher hat sie ihre beiden Kinder immer mitgenommen zu den Geburten. “Die haben dann schon mal das Babybett angewärmt”, erzählt Karin.

Halb elf. In den Wohnungen über und unter ihnen werden ganz sicher Badesachen gesucht, Picknickkörbe gepackt. Die Haustür fliegt auf und zu. Bewohner in kurzen Hosen laufen raus, vielleicht schwirrt eine dicke Sommerfliege hinein. Brummt schwerfällig durch die staubigen Sonnenstrahlen im Hausflur. Im dritten Stock wird geatmet, gestöhnt, gegessen, geredet, gegangen. Geatmet. Gestöhnt. Dann verliert Katharina noch einmal Fruchtwasser. Es ist grün. “Jetzt muss etwas passieren!”, sagt Karin. Langsam wird sie unruhig. Die Herztöne des Baby werden leiser. “Oder soll ich euch doch ins Krankenhaus fahren?”, fragt Karin. “Was machen die da?”, will Katharina wissen. “Ein Mittel zur Beschleunigung geben. Ganz bestimmt. Ihr müsst entscheiden.” Katharina will bleiben. Weitermachen.

12 Uhr. Sie wechseln noch einmal die Stellung, Katharina hockt vor dem Sofa, auf Folie, auf Teppich. Der Muttermund ist immer noch nicht ganz auf. Die Musik, die Sonnenflecken auf den Bildern an der Wohnzimmerwand, alles egal. Plötzlich sind Babys Herztöne schlecht. Karin entscheidet blitzschnell. Sie hieft Katharina aufs Sofa. Sie sagt nicht viel, aber sie ist nervös, das spürt Katharina. Karin wendet den Kristeller-Griff an, das heißt sie schiebt das Baby von außen mit jeder Wehe mit. “Das ist brachial. Animalisch. Kein bisschen romantisch”, sagt Katharina. “Es hat unglaublich weh getan, ich habe so geschrien.” Noch Tage später sieht man die blauen Flecken. Die anderen Mieter scheinen alle am See zu sein. Niemand hört Katharina. Später werden sie sich wundern und sagen: “Wie, das Baby ist schon da?”

Max wird um kurz nach zwölf geboren. Auf der Sofaseite, die Stephan nur halbherzig abgedeckt hatte. Das weiche Laken auf der anderen Seite ist noch blütenweiß. Max ist blau. Er schreit nicht. Karin schreit. “Halt das Kind fest, halt das Kind fest, Katharina.” Karin wühlt hektisch in ihrer Tasche, sucht nach einem Schlauch. “Ich hab gar nichts gedacht in dem Moment. Ich hab gemacht. Ich hab ihn gehalten.” Karin findet den Schlauch, pustet Max Luft zu – und er fängt sich. Schnappt nach Luft. Wird langsam rosa. Katharina hält ihn, auf dem Bauch, auf der Folie, auf dem Sofa, während Karin ihren Damm näht, einfach so, mit Nadel und Faden. Eigentlich wird bei Hausgeburten höllisch auf den Damm aufgepasst, er wird mit Öltüchern behutsam geschützt. Hier war dafür keine Zeit.
hair replacement systems
“Das war eine mittelschwere Geburt”, wird Hebamme Karin später sagen. Und dass das alles Dinge sind, die bei Geburten passieren können. Im Krankenhaus hätte man sofort einen Notkaiserschnitt gemacht. Das Schwierigste an ihrem Beruf sei, dass man ganz allein blitzschnell Entscheidungen treffen muss. “Als Max Herztöne schlecht waren, gab es nur zwei Möglichkeiten: Notarzt rufen oder zupacken. Und für den Notarzt war es eigentlich schon zu spät.”

Den Rest des Tages verbringen Katharina, Stephan und Max auf dem Sofa. Stephan hat irgendwann die Folie ab- und eine Decke aufgezogen. Kein bisschen Schweinerei. Emma kommt dazu, aber kein Arzt, keine Schwester, kein Küchenpersonal fragt, was es am nächsten Tag zu essen geben soll. Sie kuscheln, küssen, bewundern. Max ist immer bei Katharina, wurde nur kurz gemessen und gewogen. Zur U2 werden sie erst in ein paar Tagen gehen.

Inzwischen denkt Katharina kaum noch an die Geburt. Es fällt ihr nicht ein, wenn sie ihre Lieblingscroissants isst oder wenn Sonntag ist oder wenn die Sonne wieder Lichtflecken auf die Wohnzimmerbilder malt. Nur manchmal, ganz selten, muss sie daran denken. Nämlich wenn ein Gast auf dem Sofa Platz nimmt, exakt an der richtigen Stelle. “Genau da wo du jetzt sitzt wurde Max geboren”, sagt sie dann und freut sich.

Falls es noch ein Kind gibt, wird das wieder eine Hausgeburt.

PS. Liebe Katarina, ganz herzlichen Dank für dieses sehr persönliche Interview!

Eine schöne Woche euch,

Claudi