Letzte Woche, wir waren kaum von Schule und Kindergarten zuhause, stellte mein Sohn fest dass er etwas Wichtiges in der Vorschule vergessen hatte. Ich war genervt, denn er hatte genau das schon mehrmals vergessen und gerade einen Tag vorher hatten wir lang und breit darüber gesprochen. Er sagte gar nicht viel, schnappte sich bloß seine Jacke, öffnete die Tür und rief: “Kein Problem, ich hol das kurz…!”

Es ist nicht weit von unserem Haus bis zur Schule. Und ja, wir wohnen auf dem Dorf. Allerdings gibt es auf den schmalen Straßen bei uns keine meist keine Bürgersteige. Und ein Stück Fußweg führt an der Deichstraße entlang, auf der große Laster entlangdonnern und alle – außer vielleicht die Touristen – mindestens hundert fahren. Mein Sohn war noch nie allein zur Schule gegangen, morgens und mittags hole ich immer alle gemeinsam mit dem Auto oder mit dem Bollerwagen ab. Allerdings bin ich bin ein großer Fan davon, dass Kinder schon früh kurze Wege allein gehen – und als mein Sohn so entschlossen zur Tür hinauseilte, dachte ich eine Sekunde lang. “Ja, verdammt, tu das. Lauf – und dann vergiss es nie wieder.”

Dann passierte in meinem Kopf etwas ganz anderes. Es ist nämlich so: Ich bin Regisseurin seit ich Kinder habe. In meinem Kopf laufen ganz Filme, riesengroße, aufwendige Blogbuster mit intensivsten, meist grausigen Bildern. Ich sah meinen Sohn an der Deichstraße entlanggehen, dann einen Laster heranrauschen, hörte ihn laut hupen, Bremsen quietschten… Ich schrie auf. Das war alles so real und so furchtbar, das sich mir meine Jacke schnappte und ihm hinterher lief. Die Filme in meinem Kopf, seit ich Kinder habe, sind oscarreif, ganz ehrlich. Mindestens einer für aufwendige Ausstattung und Dramaturgie.

Er war schneller als gedacht, als ich oben am Deich ankam, hatte er das Stück an der großen Straße entlang schon beinahe geschafft. Er lief auf der Wiese daneben, von der Straße abgetrennt durch einen niedrigen Holzzaun. Die Wiese gehört zu einem Hof, ist also eigentlich Privatgelände, aber er ging ganz oben neben der Straße, direkt hinter dem Zaun. Mein Herz klopfte wie wild und ich rief und winkte erleichtert und zeigte den Daumen hoch. Ich ging zurück nach Hause und verbot mir weitere Blockbuster im Kopf. Ein paar Minuten später fuhr mein Mann los, um unseren Sohn auf halbem Weg einzusammeln.

Am nächsten Nachmittag sprach ich mit ein paar befreundeten Müttern darüber und war überrascht, wie unterschiedlich die Sache gehandhabt wird. Da dürfen einige Kinder mit vier schon ganz allein die Dorfstraße bis zu einer Freundin entlanggehen. Andere mit acht noch nicht allein zur Schule. Ich würde meinen Kindern gern mehr Freiheit lassen – wenn bloß die Schnellstraße am Deich nicht wäre. Aber Gefahren gibt es überall, oder? Als Lehrerin würde ich sagen, es ist wichtig, Kinder loszulassen und Wege allein gehen zu lassen, zumindest wenn sie schon in der Schule sind. Natürlich müssen alle Wege vorher mehrmals gemeinsam abgelaufen und geübt sein. Vertrauen haben gehört allerdings immer dazu. Und das ist wirklich kein bisschen leicht. Ich fürchte schon jetzt das spektakuläre Kinoprogramm da oben in meinem Kopf, wenn ich über die nächsten Jahre nachdenke.

Wie handhabt ihr das? Sind eure Kinder schon mal allein unterwegs?

PS. Auf dem Foto sind meine Jungs auf den Straßen Italiens unterwegs. Fast allein – ich laufe zwei Meter hinter ihnen…

Alles Liebe,

Claudi